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Texte

> FAZ, 19.04.2024

Fischen zu Fuß

„Bonjour“, sagte der Mann in Gummistiefeln, der vor uns an der Reihe war. Stolz hielt er dem Weinhändler einen kleinen Eimer unter die Nase. „Ich hätte gern eine schöne Flasche Wein zu meinen Muscheln“, sagte er dann und zog „belle bouteille“ so fröhlich in die Länge, dass es sich anhörte, als würde er singen. Die gute Laune war kein Wunder, denn ganz offensichtlich kam der Mann nicht aus dem Carrefour, sondern geradewegs vom Strand und seine Trophäe frisch aus dem Meer.

„Pêche à pied“ – wörtlich übersetzt: das Fischen oder Angeln zu Fuß – hat in Frankreich eine lang zurückreichende Tradition, vor allem an den atlantischen Stränden im Norden mit ihrem starken Tidenhub. Während das Sammeln von Muscheln, Schnecken und Krebstieren früher den meist armen Küstenbewohnern half, ihr Überleben zu sichern, entwickelte es sich im 19. Jahrhundert zu einer immer populärer werdenden Freizeitaktivität: Einer Studie zufolge fischen rund zwei Millionen Franzosen regelmäßig zu Fuß. Als ich einen beträchtlichen Teil dieser zwei Millionen zum ersten Mal an einem südbretonischen Strand entdeckte – es war ein strahlend heller Sonntagmorgen und das Meer hatte sich wegen einer Springtide viel weiter zurückgezogen als sonst –, rieb ich mir erstaunt die Augen. Was ging da vor sich, dort hinten in der schimmernden Ferne? Beim Näherkommen wurde es deutlich: In den freigelegten Felsen, die vom Strand bis nach Amerika zu reichen schienen, tummelten sich Menschen, große und ganz kleine, die mit Messern schabten, kratzten und klopften, vor sich jeweils ein Eimerchen, in dem Schnecken, Venus-, Herz- und Miesmuscheln landeten, vielleicht auch Krabben oder der ein oder andere arme Seeigel. Alles ging in friedlicher Geschäftigkeit vor sich. Keine Stimmen waren zu hören, kein Wind, kein Tosen, nur das geduldige Kratzen von Messern auf Stein und dann und wann eine meckernde Möwe.

Zu Fuß fischen darf jeder. Niemand braucht einen Angelschein, alle dürfen jagen und sammeln, aus Artenschutzgründen allerdings zu stark reglementierten Bedingungen.

Ich habe mich informiert: Unabhängig von der Saison dürfte ich 500 Strandschnecken sammeln oder 100 Venusmuscheln über 4,3 cm und sogar 60 Austern, die größer sind als 5 cm. Sechzig Austern! Ich kann nicht mal eine einzige essen. Was ich plötzlich ein bisschen bedaure, als ich an das konzentriert gemütliche Bosseln in den Felsen und an den hochgestimmten Mann in Gummistiefeln denke. Vielleicht sollte ich mir einen Ruck und Meeresfrüchten eine Chance geben?

Andererseits, aufs Sammeln folgt ja immer noch das Essen, und – ich habe es genau beobachtet in französischen Restaurants – man benötigt ein kompliziertes Operationsbesteck, lebenslange Erfahrung und vor allem sehr viel Geduld, um aus irgendwelchen winzigen Krustentierscheren zwei Milligramm Fleisch herauszufriemeln und dabei auch noch gut auszusehen. Vielleicht bleibe ich also doch lieber bei meinem schalenlosen Baguette und dem Käse aus der Markthalle und betrachte die friedlich arbeitenden Zu-Fuß-Fischer friedlich aus der Ferne.

> FAZ, 19.04.2024
> FAZ, 07.03.2024

„Verstörend“ heißt: Man versteht es nicht

Klappentexte – „blurbs“ auf Englisch – sind ein Genre für sich. Sie befinden sich auf Buchumschlägen und erfüllen einen doppelten Zweck: Sie sollen über den Inhalt informieren und zum Buchkauf animieren. Doch sagen diese Texte immer genau, was sie meinen?
Hier ein Glossar als Übersetzungshilfe.

 

bezaubernd  |  Es kommt ein Hund vor
herzerwärmend  |  Hund und Kind
bewegend  |  Hund stirbt
herzzerreißend  |  Kind stirbt
nachdenklich  |  langweilig
zu Herzen gehend  |  kitschig
ungeschönt  |  unschön
skurril  |  Humor, den nicht alle verstehen
eindringlich |  kein Humor
nostalgisch  | spielt in der Vergangenheit

exotisch  |  spielt im nicht-westlichen Ausland
kühn  |  spielt in der Zukunft
karg |  in der norddeutschen Provinz
am Puls der Zeit  |  Prenzlauer Berg

preisgekrönt |  von Ulrike Draesner
episch | Lektorat eingeschüchtert vom Renommee der Autorin
ein Klassiker  |  Autor ist alter weißer Mann

interessantes Debüt  |  Einladung nach Klagenfurt
beeindruckendes Debüt | etwas zu ambitioniert
verstörendes Debüt  |  man versteht es nicht

sparsam und straff  |  schlecht recherchiert
von akribischer Genauigkeit | viel zu ausführlich
originell  |  mühsam zu lesen
formal außergewöhnlich  |  sehr mühsam zu lesen
in intelligentem Plauderton  | seicht
von großem Sog  |  (klingt immer gut)
mit Spannung erwartet  |  Rechte zu teuer eingekauft
vom Feuilleton hochgelobt  |  unverkäuflich

mit poetischer Stimme |  manieriert
in der Tradition von  |  abgekupfert
mit Anklängen an Margaret Atwood  |  nicht so gut wie Margaret Atwood
packend und mitreißend  |  zu viel Handlung
feinstes Nature Writing |  keine Handlung
rasantes Roadmovie  |  Zielgruppe männlich
von dringlicher Aktualität  |  frühe Remissionen
zeitgemäß  |  „woke“
authentisch  |  autofiktional
in moderner Sprache  | es wird gegendert
einfühlsam und empowernd |  für die Generation Z
mit einem überraschenden Ende | Ende offen / unverständlich

 

Inspiriert von „Book Blurbs – Glossary of Terms”, gefunden bei @booksofbrilliance

> FAZ, 07.03.2024
> FAZ, 02.02.2024

Der Sturm

Schon Tage zuvor hatten die französischen Medien vor dem herannahenden Sturmtief gewarnt. Es gab Wind- und Regenprognosen, Karten, auf denen sich verfolgen ließ, wann und wo der Sturm die Küste treffen würde, im Fernsehen sah man Fischer im Finistère, die ihre Boote und Netze sicherten, und Menschen, die kleine Deiche vor ihren Strandrestaurants bauten. Ich war gebannt. Aber auch entspannt. Unser Häuschen hatte sich schon oft als sturmsicher erwiesen, und außerdem liebte ich Wind. Wind opferte ich jede Frisur (welche Frisur, höre ich Freundinnen fragen), ich besitze die richtigen Jacken, und, ich glaube, die richtige Einstellung. Wenn Wind durch Bäume rauscht, Meereswellen Schaumkronen aufsetzt und die Gischt vor sich hertreibt, bin ich im Glück. War ich im Glück – bis dieser Jahrhundertsturm die Atlantikküste traf und damit auch uns.

Nie hatte ich ein solches Tosen und Donnern gehört, nie das Meer derart wütend gegen die Felsen klatschen sehen, nie gespürt, wie der Wind an allem zerrt, an Fensterläden, Dächern, Bäumen, und irgendwie auch am eigenen Innern. Erstmals hatte ich tiefes Verständnis für frühe philosophische oder religiöse Anschauungen, nach denen sich etwas Größeres hinter Machtdemonstrationen der Natur verbirgt, strafende Götter, Dämonen, im großen Stil orchestrierte Racheaktionen! Vielleicht spielte auch das Gefühl von allgemeiner Zerbrechlichkeit mit hinein, denn was schien noch sicher in dieser Welt?

Obwohl wir, wie wir am nächsten Morgen feststellten, vergleichsweise wenig verloren hatten, spürte ich eine schwere, tiefe Traurigkeit in mir. Die galt nicht den Dachpfannen oder dem WLAN, sondern zwei riesigen alten Bäumen. Einer der beiden, eine wunderschöne Pinie, war vom Grundstück quer über die Straße gestürzt. „Und nun?“, fragten wir die Polizei, die zeitgleich mit uns den Baum betrachtete. „Sollen wir die Feuerwehr rufen?“ „Mais non“, antwortete die Polizei. „Es ist doch Ihr Baum!“ Aber Ihre Straße, wollten wir sagen, was natürlich nicht stimmte, aber konnte es wirklich sein, dass hier nicht die Feuerwehr zuständig war?

Was wir anschließend erlebten, fühlte sich an wie ein Kabinettstück französischer Krisenkultur. Wir riefen beim Bürgermeisteramt an und waren überrascht, überhaupt jemanden zu erreichen. Mehr noch, die freundliche Dame am Telefon sagte, sie würde gleich zwei Kollegen schicken. Die auch zehn Minuten später auftauchten, den Baum betrachteten und sagten, wir müssten ein Unternehmen für Baumarbeiten kontaktieren, ob wir da eine Nummer hätten? Hatten wir nicht, aber man half uns. Keine drei Stunden später war ein konzentriert arbeitendes Team von Männern zur Stelle, die alle aussahen wie junge Ausgaben von Jean Reno und die in Windeseile unsere Pinie in viele kleine Scheiben zersägten. Nachbarn, viele von ihnen ohne Strom, erkundigten sich, wie es uns ging und ob wir etwas brauchten. Ein Mann, den wir von Spaziergängen am Strand und nur aus der Ferne kannten, kam auf uns zu und gab uns die Hand. Dass Menschen sich in Extremsituationen die Hände reichen, ist natürlich eine Binse, aber trotzdem hob all dies meine Stimmung ganz beträchtlich.

Der nächste Sturm, der Ciarán auf dem Fuße folgte, fiel milder aus. Vielleicht hatten die Effizienz des Bürgermeisteramtes und die Freundlichkeit unserer Nachbarn die Götter besänftigt.

> FAZ, 02.02.2024
> FAZ, 05.11.2023

Schweiz revisited

Man darf es ja eigentlich nicht laut sagen, aber: Die Schweiz ist putzig. Und bemerkenswert ist, dass sie in den vergangenen Jahren nichts an Putzigkeit eingebüßt hat. Während das restliche Europa (die restliche Welt, um genau zu sein) durch zahlreiche Wandel erschüttert und gespalten wurde, bewegt sich der Zeiger von St. Peter mit derselben Gelassenheit über das Ziffernblatt der größten Turmuhr Europas wie eh und je.
Ich war, anders als die Turmuhr, durch die Pandemie aus dem Takt meiner regelmäßigen Besuche geraten und in diesem Sommer zum ersten Mal wieder in Zürich.
Nichts hatte sich verändert. Also fast nichts. In der Innenstadt haben große langweilige Filialgeschäfte großer langweiliger Ketten eine Reihe alteingesessener Boutiquen verdrängt. Vor zwei Jahren wurden die Banknoten getauscht und durch plastikähnliche Scheine ersetzt, die mich stark an das Papiergeld meiner alten Kinderpost erinnern. Die Kirchturmuhr vor unserem Hotel darf gemäß der neuen Läutordnung zwischen Mitternacht und sieben Uhr morgens nicht mehr läuten, was einerseits der Nachtruhe dienlich, aber andererseits doch ziemlich schade ist.
Von diesen drei Änderungen abgesehen ist die Schweiz jedoch exakt dieselbe alte Schweiz wie vor Corona und wie 1998, als ich in Zürich meine erste Stelle antrat, und vermutlich auch wie zur Zeit des Rütlischwurs. Schweiz-Fahnen wehen stolz in jeder Gasse und auf jeder Alm, und der Himmel ist so blau, dass sich das Rot der Fahne (Pantone 485 C / 485 U gemäß Wappenschutzgesetz) perfekt gegen das Blau des Himmels absetzt. Man geht bei Grün über die Ampel und mit 64 in Rente. Und ist unverändert stolz auf alles, was die Schweiz zu bieten hat und besser kann als alle anderen, Uhren, Schokolade, Taschenmesser, Waffen, Berge, Banken, Roger Federer und die Bratwurst am Vorderen Sternen.
Weniger stolz ist man auf die Sprache, weil genau sie – in Kombination mit der unfassbaren Ordnung im Inneren wie im Äußeren (die Gehwege! die Pünktlichkeit der Bahnen und Trams! das fluoridierte Trinkwasser, das vor Karies schützt!), kurzum: mit der gesamten Miniaturwunderlandhaftigkeit – dafür verantwortlich ist, dass wir arroganten, schnöseligen Deutschnachbarn dieses Pantone-rote Barbieland so putzig finden. Nastüechli, Serviertochter, Trottinett, wie goldig! Wir können gar nicht genug bekommen von diesen lustigen Wörtern, die uns an gemütliche Emil-Abende vor dem Fernseher erinnern und an Skiurlaube und Käsefondue, aber niemals an das echte Leben.
Als ich am Vorabend unserer Abreise an der Limmat stehe, die in spätsommerlich warmes Licht getaucht ist, und außer dem feierlichen Glockengeläut vom Grossmünster nur wenig zu hören ist, denke ich plötzlich, dass vielleicht gar nicht so viel verkehrt ist an diesem sehr neutralen Frieden. Ich vermisse nichts. Weder Lärm noch Hochdeutsch und schon gar keine Nachrichten vom Weltuntergang. Ob mit dem Geld meiner alten Kinderpost eine kleine Wohnung zu haben wäre, irgendwo hier zwischen Limmat und See? So fürs Alter zum Beispiel? Aber wahrscheinlich bin ich von zu viel Putzigkeit und Schoggi gerade auch einfach nicht ganz dicht im Oberstüübli.

> FAZ, 05.11.2023

> FAZ, 06.08.2023

Die Schlange

Der beliebteste Fischhändler der Markthalle heißt Chez Patrick, und die Schlange vor seinem Stand ist lang. So lang, dass sie sich den gesamten Stand entlangzieht und weiter entlang des angrenzenden Austern-Stands bis hin zum Charcutier, wo es jeweils ebenfalls kleinere Schlangen gibt, sodass die Wartenden zeitweise in parallelen Schlangen stehen. Ich stehe auf der Höhe der Austern und zähle: noch neun Personen, bis ich dran bin.
Ein paar Minuten später sind es immer noch neun. Nichts bewegt sich, also nichts außer meinem Puls. Ich schaue auf die Uhr. Mein Handy. Trippele auf der Stelle. Mache mit dem Handy ein Foto von den dekorativ aufgeschnittenen und auf Tellern angerichteten Austern, obwohl ich Austern nicht mag. Ich schaue mich um. Suche die Blicke der anderen Wartenden, hoffe auf ein solidarisches Augenrollen, nur ganz kurz und vielleicht ein bisschen verschwörerisch, aber – nichts. Rien. Alle sind ruhig und schauen zufrieden in die Gegend. Niemand scheint ein Problem mit seinem Puls zu haben. Niemand empört sich, dass am Anfang der Schlange jemand steht und sich mit dem Fischfachmann in aller Ruhe über Seebarsch-Rezepte oder über den am besten zu Jakobsmuscheln passenden Weißwein austauscht. Wissen die denn alle nicht, dass die Welt da draußen sich in rasendem Tempo weiterdreht, dass ich am Schreibtisch sitzen müsste, dass das hier – wertvolle Lebenszeit ist? Und überhaupt, sind es nicht, wenn schon, die Briten, die aufs geordnete Schlangestehen spezialisiert sind, das berühmte queueing? Welches ja bereits bei einer einzigen Person beginnen kann. „Are you queueing for bus number 7?“, wurde ich während meines Studiums auf der Insel einmal gefragt, obwohl außer mir in der Nähe der Haltestelle weit und breit niemand zu sehen war.
Wobei – von geordnetem Queueing kann in Frankreich gar nicht die Rede sein. Um den in Großbritannien erwünschten Abstand schert sich hier niemand, im Gegenteil, selbst zu Corona-Zeiten rückte man sich möglichst eng auf die Pelle, und der empfohlene Mindestabstand betrug vielerorts 1 m. Einen Meter! Man hätte sich gleich auf einen Zentimeter einigen können, denn die Franzosen lieben keinen Abstand. Aber auch kein Vordrängeln und keine Hektik. Seelenruhig stehen sie in der Schlange und warten. Auch außerhalb der Markthalle sind sie seelenruhig. Und höflich. Sie hupen nicht. Sie entschuldigen sich, wenn man ihnen mit dem Einkaufswagen über die Füße fährt. Sie reißen ihren Hund an sich mit der verlegenen Behauptung, er sei bösartig (méchant), obwohl sie in Wahrheit nur eine Begegnung mit unserem Hund vermeiden möchten, dem sie dann aber noch freundlich hinterherrufen, wie hübsch er sei. Sie sind großzügig und geduldig mit uns Ausländern, wenn wir endlich an der Reihe sind und das Wort für Steinbutt oder Schnittlauch nicht parat haben.
Keine Frage, in Paris ist die Lage anders. Aber außerhalb von Paris ist sie so wie hier, und langsam wird mir klar, warum Frankreich zu den Ländern mit der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung in Europa zählt und warum hier so großen Wert auf einen frühen Eintritt ins Pensionsalter gelegt wird. Endlich auch wird mir der tiefere Sinn und die Wahrheit klar von Laissez-faire und Savoir-vivre. Beides fängt in der Schlange beim Fischhändler an.

> FAZ, 06.08.2023

> FAZ, 07.07.2023

Die Sommerlektüre

Die schönste Seite der Urlaubsvorbereitung ist nicht die Suche nach dem Zeckenentferner-Set oder das Überprüfen, ob der Bikini noch passt (nein) oder ob die Sonnencreme abgelaufen ist (man weiß es nicht). Nein, die schönste Seite ist eindeutig das Heraussuchen der Bücher, die man lesen möchte. Der Stapel ungelesener Bücher („SuB“ unter Insidern), der über Wochen und Monate in enger Zusammenarbeit mit dem schlechten Gewissen immer größer geworden ist, liegt plötzlich vor mir wie ein glitzerndes Meer. Mit zärtlichem Blick nehme ich die Bücher einzeln vom Stapel, verteile sie vor mir auf dem Fußboden und schiebe sie hin und her wie Memorykarten.
Um dann wenig später mit dem perfekten Stapel-Destillat endlich an dem echten glitzernden Meer anzukommen und festzustellen, dass es dort ziemlich windig ist. Und auch irgendwie sehr hell. Die Seiten flattern, Haare fliegen ins Gesicht. Irgendwas im Nacken juckt. Die Sonne wandert. Sind meine Füße eigentlich eingecremt? Mir ist zu warm. Und dann zu kühl. Ich ziehe ein T-Shirt über den Bikini und hole dann eine Strickjacke, um sie eventuell über das T-Shirt zu ziehen.
Kaum sitze ich wieder, krabbelt etwas an meinem Bein hoch. Ich höre andere Gäste reden und Hummeln summen und das Geräusch von Motorbooten. Leider kann ich nicht weghören, wenn andere Gäste reden, in welcher Sprache unterhalten die sich da? Und worüber? Sind das nicht überhaupt dieselben, die sich beim Frühstück jeweils mehrere Mini-Croissants und Unmengen von Aufschnitt auf den Teller gepackt und ihren Grapefruitsaft schon auf dem Weg vom Büffet zum Tisch getrunken haben?
So kann ich nicht lesen. Ich frage mich, wie die anderen das machen, wieso können die auf Strandtüchern liegen und lesen oder auf Liegen liegen und lesen oder, das ist das größte Wunder überhaupt: in Strandkörben sitzen und lesen? Könnte nicht endlich einmal jemand zugeben, dass Strandkörbe ungemütlich sind und völlig ungeeignet zum Lesen? Man rutscht herum auf dieser gummiartigen Innenverkleidung, die obendrein komisch riecht, überall ist Sand, die Fußkästen lassen sich nur schwer herausziehen, die Klapptischchen klemmen. Grobschlächtige Holzmonster mit Fake-Komfort. Die aber begehrter sind als jede Südterrasse mit elektrisch ausfahrbaren Markisen. Es gibt zwei Möglichkeiten, denke ich mir. Entweder mache ich etwas Grundlegendes falsch. Oder der Traum vom idyllischen Draußenlesen – im Halbschatten, bei lauen Temperaturen und noch lauerem Wind – ist ein Wunschtraum. Eine Fantasie, die in Form des Strandkorbs manifest wird und die wir in der anderen Jahreshälfte züchten wie Kresse auf der Fensterbank – bisschen so, wie man sich jedes Jahr hoffnungsvoll einbildet, mit Neujahr würde tatsächlich etwas Neues beginnen.
Mein erstes Buch liegt aufgeschlagen bei Seite 12/13 neben mir. Die Nachbaren reden, die Hummeln summen. Langsam glaube ich, dass der Stapel ungelesener Bücher ungelesen wieder mit mir nach Hause reist. Sehnsüchtig werde ich dann auf den Herbst warten, um eingekuschelt in eine warme Decke lesen zu können, bei Regen und Dunkelheit und Nässe und Nebel und einer Tasse Ingwertee. Ganz herrlich wird das.

> FAZ, 07.07.2023
> FAZ, 14.05.23

Im Rausch des Meeres

Seit ein paar Jahren haben wir ein kleines Häuschen am Atlantik, ich nenne es unser „outer office“, denn auch hier sitzen wir die meiste Zeit an unseren Schreibtischen, aber immerhin: mit dem Meer direkt vor der Nase. Das war damals, bei der Suche, die Conditio sine qua non. Das Haus durfte alt und verfallen sein (war es dann auch), aber es musste direkt am Meer liegen, ohne Straße oder ein anderes Haus dazwischen und vor allem so, dass man die Brandung hören konnte.
Davon träumte vor allem mein Mann. „Pieds dans l’eau“ ist die Formulierung, nach der man bei der Suche Ausschau halten muss, was auf französisch einzigartige Weise bildhaft ist: Man wohnt so nah am Meer, dass man die Füße quasi bereits im Wasser hat. Inzwischen würde ich so weit gehen zu sagen, dass sich eine ganze Lebenshaltung hinter dem Ausdruck verbirgt, denn die Franzosen haben ihre nackten Füße grundsätzlich und zu jeder Jahres- und Tageszeit gern im Wasser: zum Schneckensuchen, Schwimmen, Surfen und Spazierengehen. Und während das Wetter eine Rolle zu spielen scheint, gilt dies eindeutig nicht für die Wassertemperatur.
Also jedenfalls fanden wir dieses Häuschen, in einem Februar zogen wir ein, es war die Zeit der Winterstürme, und der Atlantik tobte gewaltig. Große Wellen klatschten gegen das Ufer und die Felsen, es war ein herrliches Getöse. Erschöpft und glücklich schmiss ich mich am ersten Abend in die Kissen, rief Juhu und schlief ein. Ich schlief so tief, dass ich nicht mitbekam, dass mein Mann neben mir nicht sehr tief schlief. Um genau zu sein, schlief er gar nicht.
Meeresrauschen kann mit bis zu 100 Dezibel sehr laut sein, zum Vergleich: So viel Lärm macht ein Presslufthammer in zehn Meter Entfernung, und der Dauerschallpegel an einer Hauptverkehrsstraße liegt nachts bei etwa 65 Dezibel. Zu dem Phänomen, warum Menschen selbst lautes Meeresrauschen – oder auch Vogelgezwitscher, Naturgeräusche überhaupt – als angenehm empfinden und sogar zur Stressreduktion nutzen können, gibt es zahlreiche Untersuchungen und Studien. Aber gibt es auch Studien darüber, warum das Gehirn mancher Menschen völlig unberührt bleibt vom Rauschen der Natur – oder, im Gegenteil, sogar arg aufgewühlt wird, wie die schäumende See eben?
Am folgenden Morgen fiel mir auf, dass mein Mann gerädert wirkte. Ich nahm an, dass ihm Gedanken an die Arbeit nächtliche Unruhe beschert hatten, wie so oft. „Dieses Meer!“, rief er verzweifelt. Überrascht sah ich ihn an. „Es ist so scheißelaut!“ Obwohl ich den Ernst der Lage erkannte, musste ich lachen. Acht geschlagene Jahre hatte seine Suche gedauert, nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als zu den Klängen des Wellenrauschens einzuschlafen. Und jetzt war das Meer – zu laut? Ungewollt ging mir der bescheuerte Spruch mit den Wünschen durch den Kopf (mit denen man vorsichtig sein soll, weil sie in Erfüllung gehen könnten), aber dann fiel mir prompt die Sache mit den Wildlederpumps von Louboutin ein, mit denen ich am Ende keine hundert Meter weit kam, und ich wurde leise.
Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen. Auch für die Fähigkeit des Menschen, sich an Lärm zu gewöhnen, gibt es sicherlich eine neurologische Erklärung, wobei – auf einer Seite des Bettes befindet sich immer noch ein Paar gelber Ohrstöpsel. Für alle Fälle: Wind aus Osten, Westen, Südwest, Nordwest oder Südost, Sturm, Springflut, Flut überhaupt.

> FAZ, 14.05.23
> FAZ, 02.10.2022

Die Flaute

Unlängst hatte ich Gelegenheit, eine alte Gewissheit zu erneuern: Ich bin kein Typ fürs Segeln. Natürlich verstehe ich den Reiz dieser Technik – sich vorwärtszubewegen allein mit der Kraft des Windes – ebenso wie ihre einstige Notwendigkeit. Gewürze transportieren, Amerika entdecken, auswandern, wie hätte es anders gehen sollen als mit dem Schiff? Vor allem verstehe ich die romantische Idee von der Freiheit auf See und bin für die Ästhetik des Ganzen mehr als empfänglich. Unter einem geblähten weißen Segel sanft durch die südschwedische Schärenlandschaft zu gleiten, in der zwischen Kiefern, Birken und Espen immer wieder kleine rote Häuser aufleuchten, ist, ich kann es nicht anders sagen, wunderschön. Ein Traum eigentlich. Für zwei Stunden ungefähr. Nach zwei Stunden aber würde ich dann gern ein bisschen spazieren gehen. Oder lesen. Oder eine Tür zumachen und für mich sein. Was bedeutet eigentlich „Freiheit auf See“, wenn man nirgends hinkann?
Auch die Segler wissen oft nicht, wohin. Denn plötzlich flaut der Wind ab. Und jetzt? Zurück in den Hafen oder lieber in eine kleine Bucht vor Anker? Nachts soll der Wind wieder zunehmen. Liegt man in der Bucht geschützt genug, wenn der Wind genau zur Öffnung reinpfeift? Schwer zu sagen. Überhaupt ist alles schwer zu sagen. Die Crew diskutiert, betrachtet Karten und Plotter, rechnet, kurbelt Winschen, zieht an Leinen, will reffen, dann doch lieber nicht reffen, macht Knoten, löst die Knoten wieder, ruft sich unverständliche Dinge zu, entscheidet sich dann für die Bucht, schmeißt irgendwann den Anker, überlegt, ob das Schiff schwojet und wenn ja, wohin, und in diesen Momenten, in denen ich weniger verstehe als auf Schwedens Schildern („Västervik: Ostkustens pärla“ – ist doch klar?), fällt mir jedes Mal Jack Londons „Die Reise mit der Snark“ ein. Vermutlich genau deshalb eines meiner Lieblingsbücher im mare-Programm: Obwohl sich der Autor, anders als ich, für das Segeln und die Freiheit auf See begeistern konnte, hat er auch nix kapiert. Vor allem nicht, wenn es um Navigation ging: „So huldigte er [Roscoe, der Hilfsnavigator] mit dem Sextanten dem Sonnengott, er konsultierte uralte Folianten mit magischen Zeichen, murmelte Gebete in einer fremden Sprache, die sich anhörten wie Indexfehlerparallaxenrefraktion, und dann legte er seinen Finger auf einen auffallend leeren Punkt auf einem Blatt der Heiligen Schrift, die man den Gral, ich meine, die Seekarte nannte, und sprach: ‚Wir sind hier.‘ Als wir die leere Stelle betrachteten und fragten, ‚Wo ist das?‘, antwortete er im Zifferncode der höheren Priesterkaste, ‘31 – 14 – 47 Nord, 133 – 5 – 30 West‘. Und wir sagten ‚Oh‘ und fühlten uns schrecklich klein.“
Dass diese Reise (bei der die Navigation längst nicht das größte Problem war, denn der Schiffskoch konnte nicht kochen, die Crew war dauernd seekrank, die Sicherheitsschotten undicht) als vermutlich glücklichste Zeit in Jack Londons kurzem Leben gilt, ist nur erklärbar durch Leidenschaft. Durch diese verrückte, sinnlose Liebe, die es braucht, um das Rechnen, Schwojen, Reffen, Winschen, überhaupt dieses ganze Geacker an Bord, die blauen Flecken, Flauten, Ungewissheiten und den Camping-Komfort freiwillig auf sich zu nehmen. Man muss es einfach lieben, um des Segelns willen zu segeln. Jack hatte diese Liebe. Ich nicht. Meine Liebe steuert das Boot, und als ich nach fünf Nächten von Bord gehe, bin ich froh, dass sie ab jetzt gen Süden segelt und in etwa einer Woche im Heimathafen festmachen wird. Bis dahin lese ich noch ein bisschen.

> FAZ, 02.10.2022

> FAZ, 09.02.2022

Danke für den Moment

In Zeiten aufgeregter Berichterstattung (also neuerdings eigentlich immer) ist in den Nachrichtensendungen immer öfter ein Ausdruck zu hören, der in meinem Innern stets von Marietta Slomka gesprochen wird. Ihre ernste Stimme höre ich, wenn es heißt: Danke für den Moment. Unweigerlich fühle ich mich an Konfirmandenfreizeiten erinnert, bei denen wir zur Gitarre von Pastor Mohn, die er mit hingebungsvoller Inbrunst zupfte, „Danke für diesen schönen Morgen“ singen mussten, oder auch an meine dänische Freundin, die zu Unizeiten, wenn es wieder einmal spät geworden war und sie bei mir übernachtet hatte, morgens im Gehen durchs Treppenhaus rief: „Und danke für heute Nacht!“ Das aber meint Marietta Slomka nicht, wenn sie sagt: Danke für den Moment. Sondern sie meint „einstweilen“, weil es nach einer kurzen Pause weitergeht mit der aufgeregten Berichterstattung und sie den Zuschauern einstweilen für ihre Aufmerksamkeit danken möchte.
Als Anglistin habe ich gar nichts gegen Anglizismen, im Gegenteil, die englische Sprache hat uns wunderbare und unverzichtbare Wörter und Wendungen geschenkt, wo wären wir ohne Toaster, Beat und Jetlag? Im Unterschied zu vielen Puristen bin ich sogar der Meinung, dass wir ruhig noch viel mehr Wörter entlehnen könnten, weil das Englische oft so unübertroffen schön und präzise oder auch lustig ist, und so habe ich über die Jahre versucht, unauffällig weitere Wörter ins Deutsche zu schmuggeln. Mit fragwürdigem Erfolg natürlich, und meine Umwelt reagiert mitunter auch gereizt, wenn ich schon wieder meinen „sweet tooth“ erwähne (der sich eben nicht mit „süßer Zahn“ übersetzen lässt) oder die Welt als „topsy-turvy“ (auf dem Kopf stehend) empfinde. (Mit „flabbergasted“ für verblüfft oder „hullabaloo“ für Tumult habe ich es gar nicht erst versucht.)
Verstehe ich auch, die Gereiztheit, denn oft genug ist es ja nicht der Spaß an der Sprache, der Menschen von „business related content“ sprechen oder die Anglizismen der Jugend übernehmen lässt, sodass sie einen Auftrag „nice“ und das Verhalten der Geschäftsführerin etwas „cringe“ (peinlich) finden, sondern pures Anbiedern oder Gehuber. („Im Debriefing nach dem Kunden-Kickoff wurde deutlich, dass wir die Risk-Management-Einschätzung im Sales-Delivery-Handover reviewen sollten“, zitierte mein Bruder kürzlich einen Kollegen.)
Darauf reagiere umgekehrt ich wahnsinnig gereizt, fast so sehr wie auf slomkamäßig falsche Lehnübersetzungen: Danke für den Moment („Thank you for now“). Oder: Die Koalitionsverhandlungen sind einmal mehr gescheitert (statt „ein weiteres Mal“ für „once more“). Die großen Aufregungen in 2021 (statt im Jahr 2021 oder nur 2021). Es ist eben auch ein Unterschied, ob man etwas ordentlich und mit gutem Grund ausleiht oder falsch und unnötigerweise übersetzt. Mit Letzterem bin ich, ich kann es nicht anders sagen, ganz und gar nicht fein.

> FAZ, 09.02.2022

> 09.09.2022

Schließlich stirbt die Queen nicht jeden Tag

Die Queen starb, und ich wollte sehr gern dabei sein. Selbstverständlich konnte ich es nicht pünktlich nach Balmoral oder auch nur bis zum Buckingham Palace schaffen, aber ich schaffte es am Abend auf unsere Couch, und ich träumte davon, mit der Fernbedienung in der Hand zwischen sämtlichen in- wie ausländischen Live-Nachrichtensendungen, Brennpunkten, Interviews, Rückblicken und Dokumentationen hin- und herzuschalten, denn ich wollte wirklich nichts verpassen. Ich hatte seit jeher ein enges Verhältnis zur Queen gehabt. Ihr Tod schockierte mich. Sie war doch erst 96. Und sah noch so gut aus. Erst zwei Tage war es her, dass sie einen Premierminister entlassen und eine Neue ins Amt gehoben hatte. Und jetzt, plötzlich, war sie tot? Tot wie in DEAD? Wie gesagt, ich musste dabei sein und begab mich aufs Sofa.

Allerdings ließ sich auch mein Mann darauf nieder. Und unser Hund davor. Letzterer war empört, weil er aufgrund von heftigen Wolkenbrüchen, die sich seit Mai aufgestaut und an diesem Tag innerhalb von zwei Stunden entladen hatten, am Nachmittag nicht vor die Tür gekommen und nun der Meinung war, es sei Zeit. Ersterer wollte zwar nicht vor die Tür, weigerte sich aber vehement, um die Königin zu trauern. Schlimmer noch, er weigerte sich, der Berichterstattung zu folgen. Sobald es hieß, Elizabeth habe ihr gesamtes Leben in den Dienst ihres Volkes gestellt, und dieser Satz wurde sehr oft wiederholt, erläuterte mein Mann empört, diese Frau habe schlicht gar nichts geleistet. Was für Verdienste?, polterte er. Leider hat er ein wahnsinnig gutes Gedächtnis. Alles Ungünstige, was wir in früheren Dokumentationen, bei Wikipedia und in der sehr guten Netflix-Serie „The Crown“ erfahren und gelernt hatten, hatte ich vergessen und vergeben. Er hingegen hatte sich jedes Detail gemerkt. Privates, Menschliches (Margaret, Lady Di, der Haldenrutsch in Südwales), Politisches – mein Mann hatte nichts davon vergessen. Und vergeben schon gar nicht. Je öfter die Sätze um die unendlichen Verdienste der Queen wiederholt wurden, desto lauter wurde das VoiceOver von links auf der Couch. Vor der Couch wurde es ebenfalls immer ungemütlicher, denn der Hund, der nicht klein ist, hatte sich aufgerichtet, und natürlich saß er nicht mit dem Gesicht zum Fernseher, so wie es angemessen gewesen wäre, sondern er saß mit dem Gesicht zu uns und starrte uns an, und zwar mit einem Blick, an dessen Finetuning die Evolution seit Tausenden von Jahren gearbeitet hatte und den sich der Hund für Notfälle aufgehoben hatte. Große, schwarze Knopfaugen bohrten sich unter leicht wackelnden Ohren abwechselnd in mein Gesicht und das meines Mannes. Wir versuchten, ihn zu ignorieren. Starr schauten wir über die wackelnden Ohren hinweg, inzwischen selbst vollkommen aufgerichtet auf der äußersten Sofakante sitzend, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Auf den meisten Bildern wurden jetzt Beine oder, bei Nahaufnahmen, Kinn und Mund der Queen oder ihrer Weggefährten von den Wackelohren des Hundes verdeckt. Ich war bereit das hinzunehmen, wenn es bei dem Sitzen und Starren bliebe. Es blieb aber nicht dabei. Der Hund begann zu fiepen. Erst leise, dann lauter. Wir sagten Platz und Bleib und Jetzt nicht und Wir gehen ja bald, aber es half nichts. Der Hund griff zu immer härteren Maßnahmen.

Terrorist!, rief mein Mann, und kurz war ich unsicher, ob er den Hund meinte oder ein Mitglied des Königshauses. Ich selbst begann zu schwitzen. So hatte ich mir den Abschied von meiner Queen nicht vorgestellt. Um 20:43 Uhr verlor ich die Nerven und entschied, den Fernseher auszuschalten.

Okay, sagte mein Mann, kein Problem.

Wie der Hund das fand, brauchten wir nicht zu fragen, denn der war wie eine schwanzwedelnde Rakete zur Tür gerast und jankte glücklich-ungeduldig vor sich hin. Traurig zog ich mir die Schuhe an. Ich fand, die beiden hätten rücksichtsvoller sein können. Schließlich stirbt die Queen nicht jeden Tag.

> 09.09.2022

> 21.10.2021

Die Hashtaggisierung der Welt

Peinlich lange hat es gedauert, bis ich wusste, was ein Hashtag ist. Zuerst hat es mich nicht interessiert, und dann habe ich es nicht verstanden. Ich stand auf Kriegsfuß mit den sozialen Medien, obwohl, Kriegsfuß trifft es gar nicht richtig, es waren eher kalte Füße oder kalter Krieg, denn nach einem kurzen Intermezzo mit Facebook hatte ich beschlossen, dass diese Welt nichts für mich ist. Ich schloss das Konto wieder (was gar nicht so einfach war, aber das ist eine andere Geschichte) und wich den sozialen Netzwerken viele Jahre lang einfach aus. Es ging ja auch so, und wenn ich ehrlich bin, waren mir selbst Handy und E-Mail oft schon zu viel. Wann immer ich etwas von Hashtags hörte, hörte ich weg. Was aber irgendwann nicht mehr möglich war, da einzelne Hashtags begannen, die Wirklichkeit durchzurütteln und zu verändern: #aufschrei zum Beispiel oder #MeToo. Beide sind geradezu emblematisch geworden für einen weltweiten gesellschaftlichen Prozess; insbesondere MeToo braucht den Hashtag gar nicht mehr, sondern steht für sich: „Ein klarer Fall von MeToo“ – solche Sätze sind oft zu lesen und werden überall verstanden, selbst von meinem 80-jährigen Vater, auch wenn er noch länger als ich nicht wusste, was ein Hashtag ist. Irgendwann, nachdem ich mich endlich fortgebildet hatte in der Sache, erklärte ich es ihm mit der Schlagwortsuche, die ihm aus vordigitalen Unizeiten vertraut war. Das „Erhabene“ suchen und Burke und Kant finden. Damit konnte er etwas anfangen.

Auch in den sozialen Medien kann man das „Erhabene“ suchen. Man findet: fast nichts. Ein paar Bilder von Wolken, Blumen, Regenbogen, einen Sinnspruch von Dao & Qigong. #dasErhabene: 56 Beiträge. #thesublime: gut sechseinhalbtausend. Im Vergleich dazu: #nature: knapp 700 Millionen Treffer. Fast genauso viele lassen sich finden unter #cute („süß“). Aber ehrlich, hier steige ich aus. Dass Hashtags sinnvoll sind, habe ich inzwischen vollkommen verstanden, und meine spärliche Instagram-Erfahrung hat mir die Mechanismen rasch klar gemacht. Ein Beitrag wird mit einem bestimmten Schlagwort getaggt (also markiert, von engl. „to tag“) und das Schlagwort wiederum mit einem „hash“ versehen (engl. für Rautezeichen), um das Internet gewissermaßen zu sortieren, um Beiträge zu bestimmten Inhalten auffindbar zu machen, Suchanfragen zu erleichtern, um Reichweiten zu vergrößern oder um zu politischen oder sozialen Aktionen aufzurufen. Also eben: #dasErhabene suchen und Sonnenuntergänge finden. #gaillardia eingeben und unzählige Bilder von Kokardenblumen entdecken. #siebdruck suchen und herausfinden, wer etwas zu diesem Verfahren gepostet hat. Auch Hashtags wie #FlattenTheCurve oder #BlackLivesMatter haben jeweils ganz klar ein wichtiges Ziel verfolgt und viel erreicht.

Aber #cute? #happy #germany #friends #love #fashion #style? (Alle ganz oben im Ranking der meistgebrauchten Hashtags.) Kapiere ich nicht. Wenn jedes Wort, auch das allerallgemeinste, wenn die ganze Welt gehashtaggt wird, heißt das dann, dass alle nach allem suchen? Und was finden die dann? Wer sucht denn #happy und mit welcher Absicht? (Und natürlich umgekehrt: Wer taggt denn #happy und hofft auch Reichweitenerhöhung, Abonnenten und Likes?) Man findet unter diesem Hashtag den größten Quark, grinsende Katzen neben Buddhas, Babys, Mettbrötchen, Handyhüllen, Kalendersprüchen und Trizepsarmen. Also vielleicht habe ich das Prinzip doch noch nicht ganz verstanden. Aber wen es interessiert, ich bin gerade an meinem #schreibtisch in der #bretagne. Und ganz #happy.

> 21.10.2021

> FAZ, 18.05.2021

Niemals ist alles erledigt

Kaum habe ich das Notebook aufgeklappt, höre ich hinter mir das Tapsen auf dem Holzboden. Wenige Sekunden später taucht die schwarze feuchte Nase neben meinem rechten Ellbogen auf und beschnuppert den Schreibtischrand. Dann stupst sie mich an. Was will er? Reden? Spielen? Futter? Muss er raus? Wir kennen uns erst seit ein paar Monaten, und auch wenn sich unsere Kommunikation in dieser Zeit erheblich verbessert hat, verstehe ich ihn nicht immer. Und er mich nicht. Ich schaue ihn an. Musst du raus, frage ich ihn freundlich. Keine Antwort. Ich wende mich wieder dem Bildschirm zu. Zweimal noch stupst er mich an, dann lässt er sich mit der Grazie eines namibischen Flusspferds neben mir auf den Boden fallen und beginnt leise zu schnaufen.
Jetzt. Jetzt kann ich arbeiten. Vielleicht aber schnell noch das Postfach checken? Ach, und das Bewerbungsschreiben von Nuri da, das sollte ich rasch korrigieren, dann ist es weg. Es ist immer gut, wenn die kleinen Dinge schon mal weg sind. Wenn Postfach und Schreibtisch aufgeräumt sind. Wie soll man denn klar denken, wenn überall das Unerledigte lauert und mit dem Finger auf einen zeigt? Auch wenn mir natürlich klar ist, dass niemals alles erledigt ist.
Oh, eine Push-Nachricht. Wie bitte, in Barcelona wird das Ende des Corona-Notstands gefeiert? Von zigtausend Menschen, die meisten ohne Maske? Sind die noch ganz dicht? Egal jetzt, ich muss arbeiten, sollen die anderen ruhig tanzen und sich infizieren, ich kann es ja doch nicht ändern. Als ich die Nachrichtenseite schließe, auf die mich die Push-Meldung automatisch geleitet hat, sehe ich am unteren Bildschirmrand des Handys in einem kleinen roten Kreis die Ziffer zwei. Zwei verpasste Anrufe. Merkwürdig, um diese Zeit, gleich zweimal hintereinander? Unbekannte Nummer, auch das noch. Da rufe ich nicht zurück, auf keinen Fall. Aber wer das wohl sein könnte? Und wenn es doch etwas Wichtiges ist? Unbekannte und, schlimmer noch, unterdrückte Nummern kann ich nicht ausstehen, die machen mir Angst, wobei, das sind ja fast nur noch sehr alte Verwandte, die mit unterdrückten Nummern anrufen, ach so, oder diese dänische Literaturagentin von neulich, aber warum sollte die mich anrufen, an einem Samstag?
Der Hund liegt da und schmatzt. Machen alle Hunde so viele Geräusche? Der Dackel meiner Kindheit hat, wenn er nicht gerade Jagd auf Füchse oder Fußgänger machte, stundenlang zusammengerollt auf einem Fleckchen gelegen und nicht mit der Wimper gezuckt. Aber dieses Tier hier! Dieses Tier schnauft, schmatzt, seufzt, es dreht, streckt, wälzt und räkelt sich, selbst im Schlaf ist es laut und unruhig wie eine Waschmaschine, hat das etwas zu bedeuten? Und dass es dauernd Hunger hat, obwohl es dreimal am Tag gefüttert wird wie ein Welpe? Darüber sollte ich vielleicht schnell etwas lesen, aber apropos lesen, ich müsste auch diese zwei Manuskripte lesen, die seit letzter Woche hier liegen, und außerdem den Essayband über schreibende Frauen, von meinem immer größer werdenden Stapel ungelesener Bücher ganz zu schweigen, bald wird er kippen, wie schaffen andere das eigentlich, lesen, arbeiten, produktiv sein, Sport machen, Körperpflege betreiben, ordentlich essen, ausreichend schlafen, mit den Freundinnen und dem Vater telefonieren, E-Mails beantworten, Bettwäsche wechseln, Kopfkissen waschen, Duschkopf entkalken, Nachrichten und den Instagram-Feed lesen, einkaufen und zur Zahnreinigung gehen? Sind die anderen effizienter, machen sie weniger oder hat ihr Tag mehr Stunden als meiner?
Meiner hat definitiv zu wenig Stunden, und ich würde das Abo gern aufstocken, aber wie? Natürlich, über den Instagram-Feed könnte man reden, und der Duschkopf muss auch nicht ständig entkalkt werden. Aber auch ohne Entkalken wird die Zeit nicht reichen. Es ist zum Verzweifeln. In der Verzweiflung greife ich zum Handy, als könnte dort die Lösung liegen. Doch statt der Lösung finden sich nur weitere Nachrichten. WhatsApps. E-Mails. Kalendererinnerungen. Und Quizduell, Hilfe, meine Runde gegen Leo läuft in einer Stunde ab? Wenn ich jetzt nicht sofort spiele, werde ich das vergessen (und verlieren). Natürlich, er hat die Kategorie Computerspiele gewählt, welcher Mensch soll bitte wissen, welches Adventure NICHT zur Myst-Serie gehört? Soll das ein Witz sein? Ich tippe auf B, und natürlich ist B falsch. (Richtig ist A: Ubu.) Warte nur, lieber Leo, gleich kommt Kunst & Kultur, wirst schon sehen, ich krieg dich noch.
Während ich zufrieden beantworte, welcher Schriftsteller mit einem Hummer an der Leine durch London spazierte (D: Oscar Wilde), erhebt sich der Hund umständlich wie ein Kalb und stellt sich neben mich. Wieder stupst er mich an, diesmal kräftiger als beim ersten Mal. Ich schaue ihn an. Er schaut zurück mit einem Blick, der ihm zweifellos die Weltherrschaft sichern könnte. Mein Widerstand zerbricht, alle Absichten werden hinfällig, und ich kraule ihm sanft das Ohr. Okay. Verstanden. Wir gehen jetzt raus. Unruhe bei Junghunden kann ich auch später noch googeln. Und arbeiten auch.
Obwohl dann vielleicht zuerst ein kleiner Mittagsschlaf dran wäre.
Wir schauen mal.

> FAZ, 18.05.2021

> FAZ, 06.08.2020

Gefühlte Teigtaschen

Im Verlag heißt es, ich hätte einen Fetisch: Anführungszeichen. Die Kollegen lachen über mich, und ich kann es nicht leugnen, ich bin fixiert auf Anführungszeichen. Andere drehen durch, wenn Marco Reus einen Elfmeter verschießt. Ich drehe durch, wenn ich in einem Text unterschiedliche Arten von Anführungszeichen entdecke. Oder wenn die richtigen Anführungszeichen in die falsche Richtung zeigen oder wenn sich in einem Zitat, das bereits in Anführungszeichen steht, doppelte statt einfache Anführungszeichen finden.
Von Wörtern, die unnötigerweise in Anführungszeichen gesetzt werden, will ich gar nicht erst anfangen, vielleicht nur so viel: Als ich mich kürzlich bei Instagram angemeldet habe, war der allererste von mir abonnierte Kanal „awkward_anführungszeichen“. Den gibt es wirklich, und die tröstlich hohe Zahl seiner Abonnenten zeigt, dass ich nicht allein bin mit meinem Fetisch. (Sollte ich „Fetisch“ sagen?) Aber in Wahrheit ist es noch schlimmer, das ahnen die Kolleginnen überhaupt nicht (bis auf zwei vielleicht). Mir springen nicht nur Anführungszeichen ins Auge, mir springt eigentlich alles ins Auge, was mit Schrift zu tun hat. Ich lese zwanghaft Korrektur. Schilder, Plakate, Rezepte, Graffiti, alles wird gescannt. Impressen. Beipackzettel. Abspanne. Todesanzeigen. Speisekarten.
Als mir vor vielen Jahren in der Zürcher Bar „Corazon“ ein überraschender Deal angeboten wurde – Korrekturlesen der Karte gegen Freigetränke –, war ich begeistert. Heute hingegen würde ich in keiner Kneipe mehr den Mund aufmachen und die Schreibweise von „Pfefferminz Tee“ oder „Foccachia“ monieren, denn inzwischen weiß ich, dass ich eigentlich die Pest bin. Gegen die Besserwisserei anderer allergisch sein, sie aber gleichzeitig mit der Nase auf Fehler stoßen, die unterm Strich völlig bedeutungslos sind? Welche Relevanz hat ein fehlendes p in Cappuccino, ein überflüssiges p in Schnaps oder ein falsch gesetztes Anführungszeichen?
Nun gut, vielleicht geraten Menschen hier und da in Verwirrung, wenn sie lesen: „Geeignet zur ,Desinfektion‘“ oder „Hier sind Sie ,herzlich‘ willkommen“. Auch die „gefühlten Teigtaschen“, die ich vor einiger Zeit bei einem Hamburger Italiener entdeckte, ziehen vielleicht nicht direkt eine Bestellung nach sich. Aber der Schaden ist vermutlich geringer als, sagen wir, bei einem verschossenen Elfmeter von Reus.
Demut beschert hat mir meine eigene Fehlbarkeit, die mir mit zwanzig eventuell noch nicht so klar war wie heute. Ich habe Kommas und falsche Trennungen übersehen, wiederholt „hinüber“ und „herüber“ verwechselt, und heißt es jetzt der Krake oder die? In einer besonders edlen und teuren Strindberg-Ausgabe verantworte ich im Anhang die „Amerkungen“ – ohne n. Und wenn wir schon dabei sind: Ich habe in meiner Laufbahn als Lektorin nicht nur einzelne Buchstaben übersehen, sondern ganze Bestseller (auch wenn ich zumindest in einem Fall der Ablehnung im Rückblick doch zufrieden bin mit meiner Entscheidung, wenngleich der Verlag es damals ganz sicher nicht war). Berufskrankheit und Berufsrisiko liegen sehr oft nah beieinander. Aber Schwamm drüber. Nobody is „perfect“.

> FAZ, 06.08.2020
> TAZ, 06.08.2020

Guilty Pleasure

Zu den sehr vielen Phänomenen, über die man rätseln kann, gehört auch das hier: Man hört ein Wort oder einen Ausdruck zum ersten Mal. Denkt sich: Ah, interessant, nie gehört, dieses Wort! Und genau ab diesem Zeitpunkt begegnet es einem in kurzen Abständen immer wieder. Ist das nun Zufall? Irgendein Cluster-Ereignis? Oder hat es nur mit der Wahrnehmung zu tun, weil einem die Wiederholung eben erst auffällt, nachdem das Wort im Gehirn einmal ordentlich neuronal angedockt hat?
Ich rede nicht von Wörtern, die aus offensichtlichen Gründen Konjunktur haben – warum „Durchseuchung“ und „Systemrelevanz“ vor Februar 2020 niemandem geläufig, danach aber in aller Munde waren, ist ziemlich offensichtlich. Nein, ich meine die anderen. Die, die einen scheinbar absichtslos anfliegen, erst einmal und dann mit verwirrender Frequenz immer wieder.
Der Ausdruck, der mir vor wenigen Monaten zum ersten Mal begegnet ist und seither immer wieder, heißt „guilty pleasure“. Ich weiß noch, wie mir der Mund offenstand, als eine meiner Kolleginnen mir in der Verlagsküche grinsend offenbarte, sie habe ein Wochenende voller „guilty pleasure“ hinter sich.
„Guilty was, bitte?“, fragte ich mit frohlockender Neugier, denn wer wüsste nicht gern, wie die Kollegen sich außerhalb der Verlagswände beziehungsweise des Zoom-Fensterchens geben und wie ernst gemeint ihre gebügelten Blusen oder V-Pullunder sind. „Guilty pleasure“ klang so herrlich verrucht. Aber bevor meine Fantasie richtig Anlauf nehmen konnte, wurde sie herb gebremst durch eine wirklich extrem enttäuschende Antwort.
Es ging um eine trashige Netflix-Serie. Alle anderen Zusammenhänge, in denen mir der Ausdruck anschließend begegnete, waren ähnlich ernüchternd. Guilty pleasure, das war Peanut-Butter-Eis von Ben & Jerry’s. Der dritte Band vom „Rosie-Projekt“. Oder eben „Tiger King“ auf Netflix. Whaaat?!, könnte man sagen, wenn man cool wäre, und einfach nur ein bisschen verwundert den Kopf schütteln.
Stattdessen begann ich mich ängstlich zu fragen, mit welchen meiner Vorlieben ich auf „schuldig“ plädieren müsste. Mir fallen verschiedene ein, eine vor allem, aber dazu gleich. Vorher muss ich eine Frage loswerden, hier ist sie: Sind wir gerade dabei, eine ganz neue Spießigkeit zu entwickeln? Eine neue Moral, beim amerikanischen Nachbarn entlehnte Gefühle? Eine neue Schuld- und Schämkultur? Nach Plastik-, Fleisch- und Flugscham jetzt auch Lustscham?
Ich frag ja nur. Wenn ja, dann müsste ich mich nämlich warm anziehen. Gut trainierte Protestanten wie ich fühlen sich ja per se schuldig an quasi allem. Nicht auszumalen, was diese neue Entwicklung alles bei mir triggern könnte. Aber gut. Immerhin meiner Therapeutin würde es die Rente sichern.
Okay, jetzt mein Geständnis. Wir müssen nicht über die dunklen Lindor-Kugeln mit 60 Prozent Kakaoanteil reden, über Scones & Clotted Cream oder darüber, dass ich alle Entwicklungen der britischen Monarchie mit Seelmann-Eggebert-hafter Hingabe verfolge und entsprechende Postkarten kaufe, wenn ich auf der Insel bin.
Nein, ganz oben im Ranking meiner aktuellen guilty pleasures steht der Lockdown. Und weil der persönliche Gewinn hier in einem ganz anderen Verhältnis zum allgemeinen Nachteil steht als beim Fleischessen oder Fliegen, leide ich massiv unter Lockdownscham. Die entsprechend viel schlimmer ist.
Andererseits hatte ich ja gar nicht die Wahl. Während ich mich durchaus entscheiden könnte, auf Steak oder Plastikkram zu verzichten, wäre es schlicht nicht möglich, mich in einen vollen Konzertsaal, ein ausverkauftes Fußballstadion oder auch nur in den Verlag zu begeben, um dort in munterer Runde das Frühjahrsprogramm 21 zu besprechen.
Muss ich mich also schämen? Ja. Weil es von mir aus, von ganz, ganz winzigen Dingen abgesehen, für immer so weitergehen könnte. Ich liebe den Rückzug. Ich vermisse fast nichts. Lockdown forever, bitte. My very guilty pleasure. Jetzt ist es raus.

> TAZ, 06.08.2020

> 26.07.2020

Bitte! Macht Scrabble neu!

Dass ich eine Anfälligkeit für digitale Spiele besitze, weiß ich seit meinem 31. Geburtstag. Aus Spaß schenkte mir mein damaliger Freund einen Gameboy, und es dauerte keine zwei Tage, bis ich alle Bücher zur Seite geschoben hatte und meine gesammelte Aufmerksamkeit einem Männchen ohne Beine schenkte, das Rayman hieß. Die Sucht passte nicht ganz in mein Selbstbild, aber wer lernt nicht gern Neues über sich? Auf Rayman folgten später bedenkliche Ausmaße annehmende Phasen von Tetris und zwei Spielen mit winzigen Vögeln, die so nervtötend waren, dass ich nachts von ihnen träumte. Umso dankbarer war ich, als ich Scrabble auf dem Smartphone entdeckte. Dieses Spiel hatte ich bereits geliebt, als ich gerade mal „Baum“ buchstabieren konnte und es für einen Coup hielt, wenn ich ein billiges E auf einem Feld mit dreifachem Buchstabenwert platzieren konnte. (Die Geduld meiner Mutter kann gar nicht genug gewürdigt werden.) Die dazugehörige App war glorreich. Optisch angelehnt an das alte Brettspiel, war sie an Harmlosigkeit nicht zu überbieten, und dass mir selbst überlassen war, wie viele Partien ich gleichzeitig spielte und wann ich meinen nächsten Zug machte, bedeutete pure Entspannung. Und dann die namenlosen Zufallsgegner! Ein Traum. Mit 4582 kam es zu einer sich über viele Monate erstreckenden Dauerpartie, und wo sonst konnte man sich derart ungehindert und frei von Chatzwängen auf einen Inhalt konzentrieren? Scrabble, das war über viele Jahre mein Yoga. Doch kein Traum währt ewig, und da ich im Vorfeld Hinweise des Spielebetreibers geflissentlich ignoriert hatte, war es ein Schock, als die App am 5. Juni auf einmal nicht mehr funktionierte. Alle laufenden Partien, weg! 4582, verschwunden! Ich googelte und fand heraus, dass nicht nur ich verstört war. Die gesamte Scrabble-Gemeinde war in Aufruhr. Denn die neue digitale Version „Scrabble Go“ ist Schrott. Das wundervolle altmodische Racing Green-Grün wurde ausgetauscht gegen bunt flackernde Farben und Steinchen, die eher an Candy Crush erinnern; alles flimmert und blinkt, die App wirbt für In-App-Käufe, und der größte Killer ist: Sie funktioniert nicht richtig. Ich war frustriert. Wie sollte ich jetzt meine Zeit in Wartezimmern gestalten, mich nachts um vier wieder zum Einschlafen bringen, überhaupt mein rastloses Gehirn beruhigen?

Als kürzlich nun aus Amerika die Nachricht kam, dass im Zuge der aktuellen Rassismus-Debatte 226 Wörter von der Liste der spielbaren Begriffe gestrichen werden sollen – die Abstimmung über diese Wörter fand im Beirat der nordamerikanischen Gesellschaft der Scrabble-Spieler, kurz NASPA, statt und wird vom Spielehersteller Hasbro (aber bei Weitem nicht von allen Scrabble-Spielern) unterstützt –, wurde mir klar: Ein ganz neues Scrabble muss her. Mit alter Optik und neuer Wörterliste. Denn auch das deutsche Scrabble erlaubt eine Vielzahl von Begriffen, die aus einer Vielzahl von Gründen nicht (mehr) annehmbar sind. Und obwohl ich ausgerechnet bei diesem Spiel gegen seelenlose Nummern-Gegner von einem fragwürdigen Ehrgeiz geritten und entsprechend stolz auf meine Siegrate war (74%!), konnte ich bestimmte Wörter nie legen, selbst wenn diese mir mehr Punkte oder sogar Siege eingebracht hätten. Einige amerikanische Profispieler – darunter selbst schwarze Profispieler – halten dagegen, dass es beim Scrabble um Punkte, nicht aber um die Bedeutung von Wörtern gehe. Das stimmt. Und es stimmt nicht. Denn Wörter haben immer eine Wirkung, und ausgerechnet bei einem Spiel wie Scrabble starren wir nicht selten sehr viele Minuten auf ein- und dasselbe Wort. Hallo, 4582! Bist du da? Du siehst das doch sicher genauso? Also bitte. Macht Scrabble neu. Sorgt für eine Erneuerung, die uns Suchtis in ästhetischer wie politischer Hinsicht glücklich macht. Und gerne auch schnell.

> 26.07.2020

> TAZ, 13.05.2020

Das neue Normal ist ziemlich super

Würde es nicht so ziepen, müsste ich fast lachen: Wie ich hier auf der Liege liege, mit FFP-2-Maske im Gesicht und Akupunkturnadeln auf der Stirn, an den Ohren, Händen, Waden und Füßen, und wie der Arzt und ich uns vorher wie außerirdische Schnabeltiere gegenübersaßen und ständig „Wie bitte“ sagten, weil die Atemmasken die Stimmen schlucken und man alles nur noch undeutlich hört. Ein idiotischer Anblick vermutlich.
Lachen sich irgendwo kleine Truman-Show-Regisseure tot? Und während ich auf der Liege liege, frage ich mich, ist das nun die Krise oder einfach das neue Normal? Befinde ich mich in einer Krise? Ist es nicht eher so, dass wir alle eine gänzlich neue Lebenssituation haben und dass diese Lebenssituation für viele, aber bei Weitem nicht für alle, eine Krise bedeutet?
Könnte ich absehen von globalen Sorgen, von meinem Mitleid für unzählige Menschen auf der Welt, von der Angst um meinen fast achtzigjährigen Vater und diffusem Fernweh, wäre die neue Lebenssituation wie für mich gemacht: keine Termine, kaum Verpflichtungen. Niemand kann sich aufregen, wenn ich Buchmessen, Lesungen und Feiern fernbleibe und Verabredungen ausweiche.
Ich kann endlos an meinem Schreibtisch sitzen. Ich kann Mittagsschlaf machen, ich kann nonstop mit meinem Mann zusammensein. Ich brauche nicht über die Konfirmation meines Patensohns nachzudenken und wie man seine frisch getrennten Eltern und deren Familien an einen Tisch bekommt. Ich brauche keine Entschuldigung dafür, dass ich in diesem Frühjahr schon wieder bestimmte Besuche nicht mache.
Kurzum, das neue Normal ist ziemlich super. Für mich. Wenngleich ich auch merke, dass meine Haut dünner ist als zuvor. Weil das beherrschende Thema immerzu da ist und wie eine geöffnete App im Hintergrund weiterläuft, selbst wenn man sie gerade nicht benutzt. Ich kann mich nicht frei machen von den Sorgen und Ängsten und den damit verbundenen Fragen: Wann gehen wir wieder ins Büro? Wird es so etwas wie einen normalen Verlagsalltag mit Sitzungen und Küchenunterhaltungen überhaupt je wieder geben?
Was ist mit dem runden Geburtstag meiner einen besten Freundin im Juni, was mit dem noch größeren runden Geburtstag meines Vaters im Januar? Wann werden wir wieder einkaufen gehen ohne Panik vor herumschwirrenden Bioaerosolen? Wann werde ich mit meiner anderen besten Freundin wieder abends auf ihrem Sofa hängen und Toffifee essen, bis mir schlecht wird? Wann werden wir Konzerte besuchen, mit dem Zug fahren, in die Bretagne reisen?
Und noch etwas wird mir klar, während ich auf der Liege liege und den Druck der Nadeln immer weniger, die Maske dafür immer stärker spüre, weil das Atmen anstrengender wird.
Die neue Lebenssituation, sie zeigt unser Gesicht, lässt bei uns allen dominante Eigenschaften deutlicher hervortreten, fast wie unter einem Brennglas – extreme Ängstlichkeit, Genussfreude und das Talent, glücklich zu sein (mein Mann), Pragmatismus und Selbstgenügsamkeit (mein Vater), Pragmatismus und Betriebsamkeit (meine eine beste Freundin), Puzzlefreude (die andere beste Freundin), Unzufriedenheit und Opferhabitus (die Nachbarin), Ausgeglichenheit und vermeintliche Unempfindlichkeit gegenüber allen äußeren Reizen oder Gefahren, seien es Zecken, Kälte oder eine Pandemie (mein Bruder), Zynismus (Onkel drei), gut gelaunte Ignoranz (Onkel eins), Doofheit (Herr M.), maßlose Dummheit, Frechheit, Unmenschlichkeit (Trump), naive Glückseligkeit (die Hälfte aller Rentner), Ungeduld (Jugend), schwache Nerven, Genügsamkeit, Glück, Faulheit (ich). So gibt uns die neue Lebenssituation schärfere Konturen. Wir lernen unsere Liebsten besser kennen. Und uns selbst.
Apropos Konturen. Als der Arzt mich endlich von den Nadeln befreit hat und ich mir am Ausgang unbeholfen die Maske abziehe, entdecke ich im Spiegel ein Gesicht, vor dem ich mich kurz erschrecke. Die Polsterschicht über der Nase und die Gummibänder am Rand haben tiefe rote Abdrücke hinterlassen. Hatte ich eben noch gesagt, wir zeigen in der neuen Lebenssituation alle unser Gesicht? Hm.

> TAZ, 13.05.2020
> TAZ, 11.05.2020

The Greatest

Dass der Geisteszustand des amerikanischen Präsidenten Anlass zur Sorge gibt, wurde nicht erst kürzlich klar, als er während der Pressekonferenz im Weißen Haus laut denkend Ideen entwickelte, wie sich Covid-19 bekämpfen ließe: durch die Injektion von Desinfektionsmitteln beispielsweise oder auch „sehr, sehr starkes Licht“.
Die speziellen Herausforderungen indes betreffen nicht nur sein Denken, sondern auch das Sprechen: Wörter, die mittlerweile jedem Grundschüler leicht über die Lippen gehen, bringen Donald Trump ins Stottern, angefangen beim „caranna virus“ bis hin zu „Remdesa-voir“. Und aus „sick patients“ werden gern auch mal „six patients“ – kein unerheblicher Unterschied, wenn es um eine Pandemie geht, die das Leben unzähliger Menschen bedroht. Bei Youtube lassen sich entsprechende Aufnahmen ansehen, die man lustig finden könnte, wenn es nicht so schrecklich ernst wäre.
Interessant, wenngleich nicht völlig überraschend, sind die Ergebnisse einer Studie, die nun drei Journalisten der New York Times vorgelegt haben: Von den über 260.000 Wörtern, die der Präsident zwischen dem 9. März und Mitte April bei öffentlichen Auftritten zur aktuellen Lage von sich gegeben hat – diese Menge entspricht in etwa einem 700 Seiten starken Buch –, entfällt der größte Teil der sich wiederholenden Äußerungen (600) auf Eigenlob. Dieses auszusprechen, fällt ihm leicht.
Anerkennende Worte für andere finden sich durchaus auch (über 360 Erwähnungen), ebenso wie Beschuldigungen (über 110). Der Anteil von Äußerungen, die Mitgefühl zum Ausdruck bringen oder die nationale Einheit beschwören, beläuft sich mit ca. 160 auf ein knappes Viertel seiner selbstverherrlichenden oder ein Topmitglied seines Teams lobenden Aussagen. Dennoch: Zu komplex darf die Syntax nicht sein.
Mit Sätzen wie „We have done a job, the likes of which nobody has ever done“ gerät Trump schwer an die Grenzen seiner Selbstbeweihräucherungseloquenz; griffiger bleibt doch nach wie vor das vielfach wiederholte „great“. Allein in der Studie der New York Times findet es sich 53-mal, die Superlativform – selbstverständlich – eingeschlossen.

> TAZ, 11.05.2020

> FAZ, 17.04.2020

Wo das Homeoffice zuhause ist

Homeoffice ist das Wort der Stunde. Fast alle, die nicht in „systemrelevanten Berufen“ tätig sind, arbeiten derzeit von zu Hause, vom heimischen Schreibtisch, Sofa oder Balkon. Und fast alle staunen, wie gut das geht. In Newslettern und sozialen Medien finden sich zahlreiche Bilder, die das neue Leben dokumentieren: Bilder von Betten, auf denen das Notebook zwischen Katze und Kleinkind versteckt ist, Bilder von Zweijährigen, die auf Schreibtischen sitzen, Bilder von Hunden, Orchideen, Kochtöpfen oder Kissen, die neuerdings zum Arbeitsleben gehören. Auch aus England und den Vereinigten Staaten erreichen uns diese Newsletter und Bilder – aber etwas fehlt. Es ist das Wort „Homeoffice“. Die Kleinkinder, Katzen, Laptops sind da, aber nirgends ist die Rede von „Homeoffice“. Stattdessen arbeiten die Kolleginnen „from home“, sie arbeiten „remotely“, oder sie erwähnen „remote working“.
Man stutzt. Und schaut nach, und währenddessen fällt einem ein: Das „Home Office“ ist in Großbritannien das Innenministerium. Zwar scheint es sowohl dort als auch in den Vereinigten Staaten den Begriff „home office“ für ein kleines Heimbüro zu geben – idiomatisch jedoch in dem Sinne, wie wir das Wort benutzen, ist es nicht. Niemand in England „macht Homeoffice“.
Wir Deutschen lieben Anglizismen. Wir lieben sie so sehr, dass wir sie zur Not auch selbst erfinden: Handy, Oldtimer, Talkmaster, Beamer, Public Viewing – das sind nur wenige unserer hauseigenen Kreationen, die „native speaker“ ins Grübeln bringen. Homeoffice würde zwar noch eher verstanden als Basecap oder Smoking. Dennoch: Warum arbeiten wir nicht einfach von zu Hause?
Vielleicht, denk ich manchmal, weil niemand so richtig weiß, wie man „zu Hause“ schreibt. „Zuhause“ groß und zusammen, „zuhause“ klein und zusammen oder „zu hause“? Andererseits gilt das auch für „Homeoffice“: im Deutschen groß und zusammen. Weder „Home office“ noch „home office“. Auch nicht so einfach.

> FAZ, 17.04.2020

> Dankesrede Albatros-Literaturpreis, April 2014

Über Irrtümer

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn ein Buch zum Erfolg wird – sei es in wirtschaftlicher Hinsicht, sei es in Form von zahlreichen freundlichen Rezensionen oder in Form einer Auszeichnung (im besten Fall: in jeder Hinsicht), dann ist in Verlagen nicht selten ein stolzes Raunen zu vernehmen. Die Verlegerin, der Lektor, die Vertriebsleiterin, der Pressechef: Sie alle sagen gern, sie haben es sofort gewusst, den Erfolg gespürt, nachdem sie die ersten Zeilen des vom Drucker noch warmen Manuskripts gelesen hatten. . .
Und natürlich: So etwas gibt es. Nicht selten aber verdanken sich solche nachträglichen Gewissheiten sogenannten Rückschaufehlern: Denn wir neigen dazu, unsere ursprünglichen Schätzungen im Rückblick (rückschauend) zu verzerren, und zwar immer in Richtung des tatsächlichen Ausgangs.
Niemand ist gefeit davor, auch ich nicht, und so wäre es eigentlich eher typisch, wenn ich mich an dieser Stelle lässig und selbstbewusst geben und Ihnen sagen würde: War mir immer klar, dass dieser Roman von Julie Otsuka neun Auflagen erreicht und ungezählte Kritiken erhält, die wichtigsten Literaturpreise der USA und den Albatros-Preis. Aber: So war es nicht. Ich erinnere mich gut an jeden Zweifel, den ich, den wir hatten, und möchte gern statt über geniale Intuitionen über Irrtümer (und Zufälle) sprechen. (Und wie Sie wissen, spreche ich hier nicht nur als Übersetzerin des Werkes zu Ihnen, sondern auch als Programmmacherin des mare Verlags – also als jene, die sich um das Aufspüren und die Akquise jener Titel kümmert, die veröffentlicht werden sollen.)
Irrtümer also.
Irrtum Nummer 1 war folgende Annahme: Wenn wir im Monat vor der Frankfurter Buchmesse nach New York fahren, scheint die Sonne. Die Verleger und Agenten empfangen uns mit offenen Armen, sind gut vorbereitet auf unseren Besuch und legen uns genau die Bücher ans Herz, die in das Profil von mare passen.
Die Wahrheit war: Es regnete in Strömen, als der Verleger Nikolaus Gelpke und ich im September 2011 auf der Suche nach neuen Büchern durch Manhattan stiefelten. Die New Yorker waren missmutig. Wir auch. Wir hatten nasse Fü.e, und man glaubte, kein Buch für uns zu haben, in dem das Meer eine Rolle spielt. Auch die Agentin von Julie Otsuka sah in dem kleinen Buch, das ganz oben auf dem Bücherstapel zwischen uns lag, kein mare-Buch, schwärmte aber gleichwohl von dem Roman, der es soeben auf die erweiterte Bestseller-Liste der New York Times geschafft hatte. Auf routinemäßiges (resigniertes) Nachfragen hin öffnete sich plötzlich ihr Gesicht: Doch! Der Pazifik, der kommt vor. Denn im allerersten Kapitel schildert die Autorin die Schiffspassage der jungen Japanerinnen, die voller Ängste und Hoffnungen ihrem neuen Leben in Amerika entgegensteuern (und dabei nicht selten seekrank über der Reling hängen). Ich fragte, ob ich das Buch direkt mitnehmen dürfe (es ist sehr klein und passte gut in meine Handtasche).
Irrtum Nummer 2: Man liest ein Buch und weiß sofort, dass es fünfzigtausend deutsche Leser genauso
begeistern wird wie einen selbst.
Die Wahrheit ist: Ich las das Buch auf dem Rückflug nach Deutschland und war elektrisiert, ich hatte so etwas nie gelesen. Dennoch war ich unsicher, was eine Veröffentlichung betraf: Würde deutsche Leser dieses spezielle Kapitel der amerikanisch-japanischen Geschichte hinreichend interessieren? Und verlangte die Wir-Perspektive nicht zu viel vom Leser – sie kämmt immerhin jede Lesegewohnheit gründlich gegen den Strich. Und Sie ahnen ja nicht, wie geübt wir Verlagsmenschen darin sind, Gründe zu finden, die gegen den Erfolg eines Buches sprechen, zahllose ungeschriebene Regeln gibt es da, was sich alles nicht verkauft: quadratische Bücher; Titel, die eine Verneinung enthalten („Was wir uns nicht hätten träumen lassen“); Romane, die von Sekten, Transsexuellen oder der Verlagsbranche handeln. . . Kurzum: Ich hatte mich in dieses Buch verliebt, aber ich wusste nicht, ob es sich um eine konsensfähige Liebe handelte. Oder ob wir uns als Verlag dieser Liebe als würdig erweisen würden. Ob wir beziehungsfähig waren.
Irrtum Nummer 3: Wenn man sich kurz vor der Buchmesse für ein Buch entscheidet, wird man hart um die Rechte kämpfen müssen.
Hier lag ein positiver Irrtum vor: Andere Lektoren hatten den Roman entweder noch nicht gelesen oder sie hatten ähnliche Zweifel wie wir (s. Irrtum Nummer 2); jedenfalls bemühte sich außer uns niemand um das Buch, sodass wir direkt nach unserer Rückkehr mühelos einen Vertrag schließen konnten.
Irrtum Nummer 4: Man verliebt sich in einen Text. Sieht, dass das Original nur 130 (kleine) Seiten hat.
Und dass die Sätze kurz sind. Und denkt: Das Ding übersetzt du selbst. Mit links. Zwischendurch.
Das war vielleicht mein größter Irrtum überhaupt, denn die Wahrheit ist: Mit links ging hier gar nichts; bald wusste ich kaum noch, wo links überhaupt war, denn eine Sache, die ich nicht bedacht hatte, war: dass die amerikanische Sprache (in der ich mich sicher fühle) das eine war – und die japanische Kultur (mit der ich nur mäßig vertraut bin) das andere. Ich bekam es bei der Übersetzung mit Göttern, Festen, Redewendungen, Kinderspielen, Anstandsregeln, landwirtschaftlichen Methoden, Schönheitsidealen und Essgewohnheiten zu tun, von denen ich noch nie gehört hatte – und die auch nicht in jedem Fall leicht nachzuschlagen waren: nicht zuletzt deshalb, weil Julie Otsuka in Kalifornien aufgewachsen ist; ihre Muttersprache ist Amerikanisch. Das erklärt zum einen, warum mir gewisse Tücken beim ersten Lesen entgangen waren, es klang ja alles irgendwie vertraut oder zumindest entschlüsselbar. Und zum anderen, warum die Übersetzung stellenweise einer Detektivarbeit gleichkam – ich musste gewissermaßen zurückübersetzen, die japanische Wurzel finden, um genau zu verstehen, was gemeint war, wenn bspw. von „ceremonial dolls“ die Rede war oder von „the annual Freeing of the Insects“ – und um dann ein deutsches Äquivalent zu finden.
Es kamen andere Herausforderungen hinzu, der Rhythmus etwa, der dem Roman etwas betörend Chor- oder Liedhaftes verleiht, seine besondere magische Aura, und der an keiner Stelle zufällig ist. Nicht zuletzt die Wir-Perspektive birgt ein Problem, ein grammatisches: Der Satz „Some of us were so dizzy we could not even walk“ – muss im Deutschen lauten: „Einigen von uns war so schwindelig, dass sie nicht laufen konnten“. Dass man das „wir“ an dieser Stelle aufgeben muss, fand ich außerordentlich ärgerlich, und es schien mir nicht im Sinne des Textes, in welchem dieses „wir“ doch eins der auffälligsten Gestaltungsmerkmale darstellt – aber es war nichts zu machen, Grammatik ist nicht anfechtbar. (Das ist ein Beispiel für relativ typische Frustrationen, die das Übersetzen mit sich bringt.) Irrtum Nr. 5: Der fünfte Irrtum war die feste Überzeugung, dass wir, Julie Ostuka und ich, den Albatros-Preis nicht erhalten würden. Nicht, weil ich Otsukas Werk für nicht preiswürdig erachtete, ganz im Gegenteil. Aber im Unterschied zu den vorigen Preisträgern war die Autorin in Deutschland bislang völlig unbekannt. Und ich als Übersetzerin sowieso. Ich wusste von der Nominierung, aber ich vergaß sie wieder, vergaß sie sogar so gründlich, dass ich, als Frau Finks Anruf kam am 14. Dezember, um ein Haar wieder aufgelegt hätte – die Verbindung war schlecht (ich saß im Zug), die Nummer sagte mir nichts, ich dachte, es habe sich jemand verwählt.
Sehr verehrte Damen und Herren: Ich gestehe, ich habe mich in jedem Detail gern geirrt. Meine Freude über den Albatros-Preis ist in jeder Hinsicht groß. Zunächst freue ich mich, dass dieses Werk von Julie Otsuka ausgezeichnet wird, welches mir immer meisterhafter erschien, je genauer ich hinsah (das ist bei manchen Texten andersherum). Julie fehlt mir heute Abend, und ich weiß, dass sie umgekehrt viel dafür geben würde, wenn sie hier sein und den Preis selbst annehmen könnte. Ich freue mich – für sie, für uns, den Verlag – , dass „her little book“, wie sie es gern nennt, ihren Weg zu den deutschen Lesern gefunden hat und so viele Menschen begeistern konnte und kann, und dass wir als Verlag und ich als Übersetzerin den Weg dafür ebnen konnten, allen Zweifeln und Irrtümern zum Trotz, und dank der wunderbaren Musik des Zufalls.
Und kaum geringer ist meine persönliche Freude über diesen Preis, der nicht nur gro.zügig, sondern auch von seiner Idee her bemerkenswert ist. Ich fühle mich außerordentlich geehrt durch diese wunderbare Auszeichnung und danke der Stiftung und der Jury von ganzem Herzen.

> Dankesrede Albatros-Literaturpreis, April 2014