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Die Hashtaggisierung der Welt

Peinlich lange hat es gedauert, bis ich wusste, was ein Hashtag ist. Zuerst hat es mich nicht interessiert, und dann habe ich es nicht verstanden. Ich stand auf Kriegsfuß mit den sozialen Medien, obwohl, Kriegsfuß trifft es gar nicht richtig, es waren eher kalte Füße oder kalter Krieg, denn nach einem kurzen Intermezzo mit Facebook hatte ich beschlossen, dass diese Welt nichts für mich ist. Ich schloss das Konto wieder (was gar nicht so einfach war, aber das ist eine andere Geschichte) und wich den sozialen Netzwerken viele Jahre lang einfach aus. Es ging ja auch so, und wenn ich ehrlich bin, waren mir selbst Handy und E-Mail oft schon zu viel. Wann immer ich etwas von Hashtags hörte, hörte ich weg. Was aber irgendwann nicht mehr möglich war, da einzelne Hashtags begannen, die Wirklichkeit durchzurütteln und zu verändern: #aufschrei zum Beispiel oder #MeToo. Beide sind geradezu emblematisch geworden für einen weltweiten gesellschaftlichen Prozess; insbesondere MeToo braucht den Hashtag gar nicht mehr, sondern steht für sich: „Ein klarer Fall von MeToo“ – solche Sätze sind oft zu lesen und werden überall verstanden, selbst von meinem 80-jährigen Vater, auch wenn er noch länger als ich nicht wusste, was ein Hashtag ist. Irgendwann, nachdem ich mich endlich fortgebildet hatte in der Sache, erklärte ich es ihm mit der Schlagwortsuche, die ihm aus vordigitalen Unizeiten vertraut war. Das „Erhabene“ suchen und Burke und Kant finden. Damit konnte er etwas anfangen.

Auch in den sozialen Medien kann man das „Erhabene“ suchen. Man findet: fast nichts. Ein paar Bilder von Wolken, Blumen, Regenbogen, einen Sinnspruch von Dao & Qigong. #dasErhabene: 56 Beiträge. #thesublime: gut sechseinhalbtausend. Im Vergleich dazu: #nature: knapp 700 Millionen Treffer. Fast genauso viele lassen sich finden unter #cute („süß“). Aber ehrlich, hier steige ich aus. Dass Hashtags sinnvoll sind, habe ich inzwischen vollkommen verstanden, und meine spärliche Instagram-Erfahrung hat mir die Mechanismen rasch klar gemacht. Ein Beitrag wird mit einem bestimmten Schlagwort getaggt (also markiert, von engl. „to tag“) und das Schlagwort wiederum mit einem „hash“ versehen (engl. für Rautezeichen), um das Internet gewissermaßen zu sortieren, um Beiträge zu bestimmten Inhalten auffindbar zu machen, Suchanfragen zu erleichtern, um Reichweiten zu vergrößern oder um zu politischen oder sozialen Aktionen aufzurufen. Also eben: #dasErhabene suchen und Sonnenuntergänge finden. #gaillardia eingeben und unzählige Bilder von Kokardenblumen entdecken. #siebdruck suchen und herausfinden, wer etwas zu diesem Verfahren gepostet hat. Auch Hashtags wie #FlattenTheCurve oder #BlackLivesMatter haben jeweils ganz klar ein wichtiges Ziel verfolgt und viel erreicht.

Aber #cute? #happy #germany #friends #love #fashion #style? (Alle ganz oben im Ranking der meistgebrauchten Hashtags.) Kapiere ich nicht. Wenn jedes Wort, auch das allerallgemeinste, wenn die ganze Welt gehashtaggt wird, heißt das dann, dass alle nach allem suchen? Und was finden die dann? Wer sucht denn #happy und mit welcher Absicht? (Und natürlich umgekehrt: Wer taggt denn #happy und hofft auch Reichweitenerhöhung, Abonnenten und Likes?) Man findet unter diesem Hashtag den größten Quark, grinsende Katzen neben Buddhas, Babys, Mettbrötchen, Handyhüllen, Kalendersprüchen und Trizepsarmen. Also vielleicht habe ich das Prinzip doch noch nicht ganz verstanden. Aber wen es interessiert, ich bin gerade an meinem #schreibtisch in der #bretagne. Und ganz #happy.

> 21.10.2021