Schuld und Sahne
Plopp, machte die Bandscheibe. Vier Monate nachdem ich an der Wirbelsäule operiert worden war, rutschte die Bandscheibe erneut heraus: Ich hatte einen Vorfall-Rückfall. Es war nicht so, dass ich das Plopp genau gespürt hätte, aber ich spürte andere Dinge, die kaum einen Zweifel daran ließen, was passiert war, und wenig später bestätigte eine MRT den Verdacht.
Interessanterweise war mein vorherrschendes Gefühl weder Ärger noch Verzweiflung, sondern Schuld. Ich hab’s vermasselt, dachte ich. Ich habe alles falsch gemacht, zu wenig Physiotherapie, zu wenig Wirbelsäulengymnastik, zu viel auf der Couch gelümmelt, ich habe mich zu oft und falsch gebückt und zu wenig Pausen am Schreibtisch gemacht, überhaupt, ich sitze zu viel, ich trinke zu wenig, ach, und die Ernährungs-Docs hätten ganz sicher auch das ein oder andere anzumerken.
Sosehr ich die Errungenschaften und Fortschritte der Medizin schätze und sosehr ich davon profitiere: Manchmal sehne ich mich nach dem Zustand der Unschuld zurück. Nach den in sepia-goldenes Licht getauchten Zeiten, als wir uns mit Sonnenschutzfaktor 6 eincremten, Sonnenbrände mit Quark kühlten, vor dem Schlafengehen zwanzig Sekunden lang mit einer harten Handzahnbürste über die Zähne schrubbten, keine Zahnseide kannten, von leeren Kalorien noch nichts gehört hatten, Nachtisch für einen selbstverständlichen Teil jeder Mahlzeit hielten und dachten, Sport sei für Nicht-Leser.
Natürlich, gesund war es nicht direkt.
Manches erscheint mir im Rückblick sogar derart abgefahren, dass ich meiner Erinnerung kaum traue. Ist es zum Beispiel möglich, frage ich mich, dass Dr. Hoffmann, das war der Hausarzt unserer Familie, meinem Freund Hans und mir mit einer Nadel sämtliche Pusteln aufstach, die sich an unseren fünf- oder sechsjährigen Körpern nach einem kurzen sommerlichen Bad in der Ruhr gebildet hatten, und dass, während er mit den Pusteln beschäftigt war und irgendwelche Dinge murmelte, in seinem Mundwinkel unablässig eine qualmende Zigarette hing? Zu Hans habe ich seit der Grundschule keinen Kontakt mehr, ihn kann ich nicht fragen. Aber mein Vater sagt, er habe es genauso in Erinnerung.
Ganz genau hingegen weiß ich noch, dass Halsschmerzen konsequent mit Langnese-Eis behandelt wurden. Überhaupt: Trost und Belohnung bestanden hauptsächlich aus Dingen, die heute mit einem bösen Nutri-Score (rot) gelabelt sind. Im Grunde hatte ich irres Glück!
Und selbst wenn das ein oder andere gesundheitliche Problemchen heute möglicherweise auf das Aufwachsen in den Siebziger- und Achtzigerjahren zurückgehen mag: Für diese Schäden kann ich ja nichts. Ich war ein Kind, und wie gesagt, es war eine Zeit des Unwissens und der Capri-Sonne-haften Unschuld.
Heute hingegen! Heute hingegen lässt sich nicht mehr sagen, man habe es „eben nicht gewusst“, weil wir nämlich alles wissen. Selbst die guten alten Gene oder herkömmliches Pech haben mittlerweile einen schweren Stand; vielmehr sind wir jetzt allein verantwortlich für quasi alles.
Allein in den letzten vier Wochen erschienen im „Spiegel“ u.a. folgende Artikel zum Thema Gesundheit: „Gesunde Ernährung kann die Lebenserwartung um 13 Jahre erhöhen“, „Hörgeräte, Bildung, Bewegung: Wie sich das Demenzrisiko in jedem Alter senken lässt“, „Die Fit-im-Hirn-Formel gegen Parkinson und Alzheimer“; hinzu kamen in sämtlichen Medien diskutierte Studien zum Thema Alkohol (gefährlich, selbst der kleinste Tropfen), Kaffee (doch okay), Muskelaufbau (sehr wichtig, für alles), Leitungswasser (schlecht für Sportler) und Agavendicksaft (leider doch keine Zuckeralternative). Garantiert habe ich eine Reihe von Themen übersehen, und garantiert ist das ein bedrohlicher Nachteil.
Denn so viel ist inzwischen klar: Wenn wir nicht aufpassen – d.h. wenn wir zu viel Fleisch, zu wenig Ballaststoffe, nicht ausreichend Omega-3-Fettsäuren und keine dreißig unterschiedlichen Pflanzensorten pro Woche essen, wenn wir schlecht schlafen, zu wenig Sport treiben, nicht meditieren, wenn wir uns nicht intensiv genug um soziale Kontakte und eine gesunde Darmflora kümmern, kein Krafttraining, kein Yoga, kein Gehirnjogging machen, wenn wir keine Work-Life-Balance herstellen und nicht früh genug ein Hörgerät akzeptieren –, dann müssen wir uns einfach nicht wundern, wenn wir krank und vorzeitig alt werden. Dann sind wir selber schuld. Schuld an unseren Rückenproblemen, unseren Depressionen, unserer Demenz, schuld an Migräne, Krebs, Parkinson, Stoffwechselproblemen, Übergewicht, Hörverlust. Schuld an allem. (Eine protestantische Prägung, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, ist, was die Empfänglichkeit für Schuldgefühle angeht, ein sehr wirksamer zusätzlicher Booster.)
Wie es mit meiner Bandscheibe weitergeht? Nun, ich weiß es noch nicht. (Keine Tipps bitte.) Allerdings stünde mir heute sehr der Sinn danach, mich zu trösten. Mit Pommes rot-weiß und einem Flutschfinger zum Nachtisch.
> F.A.Z., 14.09.2024