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Über Irrtümer

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn ein Buch zum Erfolg wird – sei es in wirtschaftlicher Hinsicht, sei es in Form von zahlreichen freundlichen Rezensionen oder in Form einer Auszeichnung (im besten Fall: in jeder Hinsicht), dann ist in Verlagen nicht selten ein stolzes Raunen zu vernehmen. Die Verlegerin, der Lektor, die Vertriebsleiterin, der Pressechef: Sie alle sagen gern, sie haben es sofort gewusst, den Erfolg gespürt, nachdem sie die ersten Zeilen des vom Drucker noch warmen Manuskripts gelesen hatten. . .
Und natürlich: So etwas gibt es. Nicht selten aber verdanken sich solche nachträglichen Gewissheiten sogenannten Rückschaufehlern: Denn wir neigen dazu, unsere ursprünglichen Schätzungen im Rückblick (rückschauend) zu verzerren, und zwar immer in Richtung des tatsächlichen Ausgangs.
Niemand ist gefeit davor, auch ich nicht, und so wäre es eigentlich eher typisch, wenn ich mich an dieser Stelle lässig und selbstbewusst geben und Ihnen sagen würde: War mir immer klar, dass dieser Roman von Julie Otsuka neun Auflagen erreicht und ungezählte Kritiken erhält, die wichtigsten Literaturpreise der USA und den Albatros-Preis. Aber: So war es nicht. Ich erinnere mich gut an jeden Zweifel, den ich, den wir hatten, und möchte gern statt über geniale Intuitionen über Irrtümer (und Zufälle) sprechen. (Und wie Sie wissen, spreche ich hier nicht nur als Übersetzerin des Werkes zu Ihnen, sondern auch als Programmmacherin des mare Verlags – also als jene, die sich um das Aufspüren und die Akquise jener Titel kümmert, die veröffentlicht werden sollen.)
Irrtümer also.
Irrtum Nummer 1 war folgende Annahme: Wenn wir im Monat vor der Frankfurter Buchmesse nach New York fahren, scheint die Sonne. Die Verleger und Agenten empfangen uns mit offenen Armen, sind gut vorbereitet auf unseren Besuch und legen uns genau die Bücher ans Herz, die in das Profil von mare passen.
Die Wahrheit war: Es regnete in Strömen, als der Verleger Nikolaus Gelpke und ich im September 2011 auf der Suche nach neuen Büchern durch Manhattan stiefelten. Die New Yorker waren missmutig. Wir auch. Wir hatten nasse Fü.e, und man glaubte, kein Buch für uns zu haben, in dem das Meer eine Rolle spielt. Auch die Agentin von Julie Otsuka sah in dem kleinen Buch, das ganz oben auf dem Bücherstapel zwischen uns lag, kein mare-Buch, schwärmte aber gleichwohl von dem Roman, der es soeben auf die erweiterte Bestseller-Liste der New York Times geschafft hatte. Auf routinemäßiges (resigniertes) Nachfragen hin öffnete sich plötzlich ihr Gesicht: Doch! Der Pazifik, der kommt vor. Denn im allerersten Kapitel schildert die Autorin die Schiffspassage der jungen Japanerinnen, die voller Ängste und Hoffnungen ihrem neuen Leben in Amerika entgegensteuern (und dabei nicht selten seekrank über der Reling hängen). Ich fragte, ob ich das Buch direkt mitnehmen dürfe (es ist sehr klein und passte gut in meine Handtasche).
Irrtum Nummer 2: Man liest ein Buch und weiß sofort, dass es fünfzigtausend deutsche Leser genauso
begeistern wird wie einen selbst.
Die Wahrheit ist: Ich las das Buch auf dem Rückflug nach Deutschland und war elektrisiert, ich hatte so etwas nie gelesen. Dennoch war ich unsicher, was eine Veröffentlichung betraf: Würde deutsche Leser dieses spezielle Kapitel der amerikanisch-japanischen Geschichte hinreichend interessieren? Und verlangte die Wir-Perspektive nicht zu viel vom Leser – sie kämmt immerhin jede Lesegewohnheit gründlich gegen den Strich. Und Sie ahnen ja nicht, wie geübt wir Verlagsmenschen darin sind, Gründe zu finden, die gegen den Erfolg eines Buches sprechen, zahllose ungeschriebene Regeln gibt es da, was sich alles nicht verkauft: quadratische Bücher; Titel, die eine Verneinung enthalten („Was wir uns nicht hätten träumen lassen“); Romane, die von Sekten, Transsexuellen oder der Verlagsbranche handeln. . . Kurzum: Ich hatte mich in dieses Buch verliebt, aber ich wusste nicht, ob es sich um eine konsensfähige Liebe handelte. Oder ob wir uns als Verlag dieser Liebe als würdig erweisen würden. Ob wir beziehungsfähig waren.
Irrtum Nummer 3: Wenn man sich kurz vor der Buchmesse für ein Buch entscheidet, wird man hart um die Rechte kämpfen müssen.
Hier lag ein positiver Irrtum vor: Andere Lektoren hatten den Roman entweder noch nicht gelesen oder sie hatten ähnliche Zweifel wie wir (s. Irrtum Nummer 2); jedenfalls bemühte sich außer uns niemand um das Buch, sodass wir direkt nach unserer Rückkehr mühelos einen Vertrag schließen konnten.
Irrtum Nummer 4: Man verliebt sich in einen Text. Sieht, dass das Original nur 130 (kleine) Seiten hat.
Und dass die Sätze kurz sind. Und denkt: Das Ding übersetzt du selbst. Mit links. Zwischendurch.
Das war vielleicht mein größter Irrtum überhaupt, denn die Wahrheit ist: Mit links ging hier gar nichts; bald wusste ich kaum noch, wo links überhaupt war, denn eine Sache, die ich nicht bedacht hatte, war: dass die amerikanische Sprache (in der ich mich sicher fühle) das eine war – und die japanische Kultur (mit der ich nur mäßig vertraut bin) das andere. Ich bekam es bei der Übersetzung mit Göttern, Festen, Redewendungen, Kinderspielen, Anstandsregeln, landwirtschaftlichen Methoden, Schönheitsidealen und Essgewohnheiten zu tun, von denen ich noch nie gehört hatte – und die auch nicht in jedem Fall leicht nachzuschlagen waren: nicht zuletzt deshalb, weil Julie Otsuka in Kalifornien aufgewachsen ist; ihre Muttersprache ist Amerikanisch. Das erklärt zum einen, warum mir gewisse Tücken beim ersten Lesen entgangen waren, es klang ja alles irgendwie vertraut oder zumindest entschlüsselbar. Und zum anderen, warum die Übersetzung stellenweise einer Detektivarbeit gleichkam – ich musste gewissermaßen zurückübersetzen, die japanische Wurzel finden, um genau zu verstehen, was gemeint war, wenn bspw. von „ceremonial dolls“ die Rede war oder von „the annual Freeing of the Insects“ – und um dann ein deutsches Äquivalent zu finden.
Es kamen andere Herausforderungen hinzu, der Rhythmus etwa, der dem Roman etwas betörend Chor- oder Liedhaftes verleiht, seine besondere magische Aura, und der an keiner Stelle zufällig ist. Nicht zuletzt die Wir-Perspektive birgt ein Problem, ein grammatisches: Der Satz „Some of us were so dizzy we could not even walk“ – muss im Deutschen lauten: „Einigen von uns war so schwindelig, dass sie nicht laufen konnten“. Dass man das „wir“ an dieser Stelle aufgeben muss, fand ich außerordentlich ärgerlich, und es schien mir nicht im Sinne des Textes, in welchem dieses „wir“ doch eins der auffälligsten Gestaltungsmerkmale darstellt – aber es war nichts zu machen, Grammatik ist nicht anfechtbar. (Das ist ein Beispiel für relativ typische Frustrationen, die das Übersetzen mit sich bringt.) Irrtum Nr. 5: Der fünfte Irrtum war die feste Überzeugung, dass wir, Julie Ostuka und ich, den Albatros-Preis nicht erhalten würden. Nicht, weil ich Otsukas Werk für nicht preiswürdig erachtete, ganz im Gegenteil. Aber im Unterschied zu den vorigen Preisträgern war die Autorin in Deutschland bislang völlig unbekannt. Und ich als Übersetzerin sowieso. Ich wusste von der Nominierung, aber ich vergaß sie wieder, vergaß sie sogar so gründlich, dass ich, als Frau Finks Anruf kam am 14. Dezember, um ein Haar wieder aufgelegt hätte – die Verbindung war schlecht (ich saß im Zug), die Nummer sagte mir nichts, ich dachte, es habe sich jemand verwählt.
Sehr verehrte Damen und Herren: Ich gestehe, ich habe mich in jedem Detail gern geirrt. Meine Freude über den Albatros-Preis ist in jeder Hinsicht groß. Zunächst freue ich mich, dass dieses Werk von Julie Otsuka ausgezeichnet wird, welches mir immer meisterhafter erschien, je genauer ich hinsah (das ist bei manchen Texten andersherum). Julie fehlt mir heute Abend, und ich weiß, dass sie umgekehrt viel dafür geben würde, wenn sie hier sein und den Preis selbst annehmen könnte. Ich freue mich – für sie, für uns, den Verlag – , dass „her little book“, wie sie es gern nennt, ihren Weg zu den deutschen Lesern gefunden hat und so viele Menschen begeistern konnte und kann, und dass wir als Verlag und ich als Übersetzerin den Weg dafür ebnen konnten, allen Zweifeln und Irrtümern zum Trotz, und dank der wunderbaren Musik des Zufalls.
Und kaum geringer ist meine persönliche Freude über diesen Preis, der nicht nur gro.zügig, sondern auch von seiner Idee her bemerkenswert ist. Ich fühle mich außerordentlich geehrt durch diese wunderbare Auszeichnung und danke der Stiftung und der Jury von ganzem Herzen.

> Dankesrede Albatros-Literaturpreis, April 2014