Guilty Pleasure
Zu den sehr vielen Phänomenen, über die man rätseln kann, gehört auch das hier: Man hört ein Wort oder einen Ausdruck zum ersten Mal. Denkt sich: Ah, interessant, nie gehört, dieses Wort! Und genau ab diesem Zeitpunkt begegnet es einem in kurzen Abständen immer wieder. Ist das nun Zufall? Irgendein Cluster-Ereignis? Oder hat es nur mit der Wahrnehmung zu tun, weil einem die Wiederholung eben erst auffällt, nachdem das Wort im Gehirn einmal ordentlich neuronal angedockt hat?
Ich rede nicht von Wörtern, die aus offensichtlichen Gründen Konjunktur haben – warum „Durchseuchung“ und „Systemrelevanz“ vor Februar 2020 niemandem geläufig, danach aber in aller Munde waren, ist ziemlich offensichtlich. Nein, ich meine die anderen. Die, die einen scheinbar absichtslos anfliegen, erst einmal und dann mit verwirrender Frequenz immer wieder.
Der Ausdruck, der mir vor wenigen Monaten zum ersten Mal begegnet ist und seither immer wieder, heißt „guilty pleasure“. Ich weiß noch, wie mir der Mund offenstand, als eine meiner Kolleginnen mir in der Verlagsküche grinsend offenbarte, sie habe ein Wochenende voller „guilty pleasure“ hinter sich.
„Guilty was, bitte?“, fragte ich mit frohlockender Neugier, denn wer wüsste nicht gern, wie die Kollegen sich außerhalb der Verlagswände beziehungsweise des Zoom-Fensterchens geben und wie ernst gemeint ihre gebügelten Blusen oder V-Pullunder sind. „Guilty pleasure“ klang so herrlich verrucht. Aber bevor meine Fantasie richtig Anlauf nehmen konnte, wurde sie herb gebremst durch eine wirklich extrem enttäuschende Antwort.
Es ging um eine trashige Netflix-Serie. Alle anderen Zusammenhänge, in denen mir der Ausdruck anschließend begegnete, waren ähnlich ernüchternd. Guilty pleasure, das war Peanut-Butter-Eis von Ben & Jerry’s. Der dritte Band vom „Rosie-Projekt“. Oder eben „Tiger King“ auf Netflix. Whaaat?!, könnte man sagen, wenn man cool wäre, und einfach nur ein bisschen verwundert den Kopf schütteln.
Stattdessen begann ich mich ängstlich zu fragen, mit welchen meiner Vorlieben ich auf „schuldig“ plädieren müsste. Mir fallen verschiedene ein, eine vor allem, aber dazu gleich. Vorher muss ich eine Frage loswerden, hier ist sie: Sind wir gerade dabei, eine ganz neue Spießigkeit zu entwickeln? Eine neue Moral, beim amerikanischen Nachbarn entlehnte Gefühle? Eine neue Schuld- und Schämkultur? Nach Plastik-, Fleisch- und Flugscham jetzt auch Lustscham?
Ich frag ja nur. Wenn ja, dann müsste ich mich nämlich warm anziehen. Gut trainierte Protestanten wie ich fühlen sich ja per se schuldig an quasi allem. Nicht auszumalen, was diese neue Entwicklung alles bei mir triggern könnte. Aber gut. Immerhin meiner Therapeutin würde es die Rente sichern.
Okay, jetzt mein Geständnis. Wir müssen nicht über die dunklen Lindor-Kugeln mit 60 Prozent Kakaoanteil reden, über Scones & Clotted Cream oder darüber, dass ich alle Entwicklungen der britischen Monarchie mit Seelmann-Eggebert-hafter Hingabe verfolge und entsprechende Postkarten kaufe, wenn ich auf der Insel bin.
Nein, ganz oben im Ranking meiner aktuellen guilty pleasures steht der Lockdown. Und weil der persönliche Gewinn hier in einem ganz anderen Verhältnis zum allgemeinen Nachteil steht als beim Fleischessen oder Fliegen, leide ich massiv unter Lockdownscham. Die entsprechend viel schlimmer ist.
Andererseits hatte ich ja gar nicht die Wahl. Während ich mich durchaus entscheiden könnte, auf Steak oder Plastikkram zu verzichten, wäre es schlicht nicht möglich, mich in einen vollen Konzertsaal, ein ausverkauftes Fußballstadion oder auch nur in den Verlag zu begeben, um dort in munterer Runde das Frühjahrsprogramm 21 zu besprechen.
Muss ich mich also schämen? Ja. Weil es von mir aus, von ganz, ganz winzigen Dingen abgesehen, für immer so weitergehen könnte. Ich liebe den Rückzug. Ich vermisse fast nichts. Lockdown forever, bitte. My very guilty pleasure. Jetzt ist es raus.