Fischen zu Fuß
„Bonjour“, sagte der Mann in Gummistiefeln, der vor uns an der Reihe war. Stolz hielt er dem Weinhändler einen kleinen Eimer unter die Nase. „Ich hätte gern eine schöne Flasche Wein zu meinen Muscheln“, sagte er dann und zog „belle bouteille“ so fröhlich in die Länge, dass es sich anhörte, als würde er singen. Die gute Laune war kein Wunder, denn ganz offensichtlich kam der Mann nicht aus dem Carrefour, sondern geradewegs vom Strand und seine Trophäe frisch aus dem Meer.
„Pêche à pied“ – wörtlich übersetzt: das Fischen oder Angeln zu Fuß – hat in Frankreich eine lang zurückreichende Tradition, vor allem an den atlantischen Stränden im Norden mit ihrem starken Tidenhub. Während das Sammeln von Muscheln, Schnecken und Krebstieren früher den meist armen Küstenbewohnern half, ihr Überleben zu sichern, entwickelte es sich im 19. Jahrhundert zu einer immer populärer werdenden Freizeitaktivität: Einer Studie zufolge fischen rund zwei Millionen Franzosen regelmäßig zu Fuß. Als ich einen beträchtlichen Teil dieser zwei Millionen zum ersten Mal an einem südbretonischen Strand entdeckte – es war ein strahlend heller Sonntagmorgen und das Meer hatte sich wegen einer Springtide viel weiter zurückgezogen als sonst –, rieb ich mir erstaunt die Augen. Was ging da vor sich, dort hinten in der schimmernden Ferne? Beim Näherkommen wurde es deutlich: In den freigelegten Felsen, die vom Strand bis nach Amerika zu reichen schienen, tummelten sich Menschen, große und ganz kleine, die mit Messern schabten, kratzten und klopften, vor sich jeweils ein Eimerchen, in dem Schnecken, Venus-, Herz- und Miesmuscheln landeten, vielleicht auch Krabben oder der ein oder andere arme Seeigel. Alles ging in friedlicher Geschäftigkeit vor sich. Keine Stimmen waren zu hören, kein Wind, kein Tosen, nur das geduldige Kratzen von Messern auf Stein und dann und wann eine meckernde Möwe.
Zu Fuß fischen darf jeder. Niemand braucht einen Angelschein, alle dürfen jagen und sammeln, aus Artenschutzgründen allerdings zu stark reglementierten Bedingungen.
Ich habe mich informiert: Unabhängig von der Saison dürfte ich 500 Strandschnecken sammeln oder 100 Venusmuscheln über 4,3 cm und sogar 60 Austern, die größer sind als 5 cm. Sechzig Austern! Ich kann nicht mal eine einzige essen. Was ich plötzlich ein bisschen bedaure, als ich an das konzentriert gemütliche Bosseln in den Felsen und an den hochgestimmten Mann in Gummistiefeln denke. Vielleicht sollte ich mir einen Ruck und Meeresfrüchten eine Chance geben?
Andererseits, aufs Sammeln folgt ja immer noch das Essen, und – ich habe es genau beobachtet in französischen Restaurants – man benötigt ein kompliziertes Operationsbesteck, lebenslange Erfahrung und vor allem sehr viel Geduld, um aus irgendwelchen winzigen Krustentierscheren zwei Milligramm Fleisch herauszufriemeln und dabei auch noch gut auszusehen. Vielleicht bleibe ich also doch lieber bei meinem schalenlosen Baguette und dem Käse aus der Markthalle und betrachte die friedlich arbeitenden Zu-Fuß-Fischer friedlich aus der Ferne.