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Entschuldigung, haben Sie mein Verkehrsschild gesehen?

Wer je im Ausland zum Zahnarzt musste, weiß, dass sich diese Erfahrung tiefer ins Gedächtnis schreibt als jeder Museums- oder Restaurantbesuch. Schon auf Deutsch kann es herausfordernd sein, den schmerzenden Zahn korrekt zu identifizieren und die Art der Schmerzen zu beschreiben (pochend, stechend, anhaltend, dumpf?), ganz zu schweigen von der Situation, in der ein aufgesperrter Mund das Antworten sowieso unmöglich macht. Wie aber soll das erst in einer Fremdsprache gehen, die man nicht oder schlecht beherrscht?

Warum das Französische und ich nie so recht zueinander gefunden haben, ist mir im Grunde ein Rätsel (an mangelnder Zuneigung meinerseits lag es nicht), aber von Anfang an war der Wurm drin. Zwar kannte ich schon früh meine Verbtabellen, beherrschte sämtliche Zeiten und sogar den Subjonctif, hatte das Wort für „kentern“ im Repertoire und analysierte Camus. Nur sprechen konnte ich nicht. Keine Frage, ein paar Monate im Ausland hätten geholfen, aber statt nach Frankreich zog es mich in die USA und später nach Schottland, und dass ich eines Tages als Teilzeit-Expat in der Bretagne landen würde, hätte ich mir niemals träumen lassen.

Seit einigen Jahren nun wurschtle ich mich durch den französischen Alltag. Ich versuche, winzige Wörter und Partikel in die richtige Reihenfolge zu bringen und baue einen eklektischen, erfahrungsgebundenen Wortschatz auf. Unschwer zu erraten, was zum Beispiel los war, als ich im vergangenen Jahr die Bedeutung von ouragan, rafales, submersion, tuile, dégât, chute d’arbre, abattage und élagage lernte: Orkan, Böen, Überflutung, Dachziegel, Schaden, Baumsturz, Fällen und Entasten.

Aber immerhin: Inzwischen schweige ich nicht mehr. Viel zu lange war es so, dass ich hauptsächlich über einzelne Wörter und vollständige sowie grammatisch perfekte Sätze nachdachte, während andere sich unterhielten. Ich lachte oder sagte Ah, bon, wenn ich das Gefühl hatte, dass es passte. Zu Hause übte ich mit Hilfe der App Duolingo, verdiente viele Bonuspunkte, schaffte es in die Diamant-Liga und löschte die App in einem Wutanfall, als mir klar wurde, dass ich selbst in der Diamant-Liga einer Strandbekanntschaft nicht erklären konnte, warum die achtzig Windkrafträder, die hier seit einem Jahr wie elektrische Kerzen im Meer stecken, zwar nicht schön, aber sehr wichtig sind.

Lange Zeit war es außerdem so, dass ich meinem Mann, der ziemlich gut und vor allem ohne jede Hemmung Französisch spricht, beim Einkaufen soufflierte, wenn ihm das Wort für Wolfsbarsch, Salbei oder Küchenpapier gerade nicht einfallen wollte. Und als er einmal außer Atem und mit leeren Händen zum Auto zurückkam, erklärte ich ihm mit der Gemütsruhe der niemals vom Kampf verschwitzten Linienrichterin, dass er unseren im Supermarkt stehengelassenen Einkaufskorb selbstverständlich nicht hatte wiederbekommen können, wenn er statt nach dem Korb (panier) nach unserem Verkehrsschild (panneau) gefragt hatte. An dieser Stelle hätte sich sehr passend auch Mark Twain mit dem Satz zitieren lassen, dass „der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem fast richtigen Wort der Unterschied zwischen einem Blitz (lightning) und einem Glühwürmchen (lightning bug) ist“, aber als Linienrichterin weiß man, wann ein Abseits droht.

Eine im Baskenland lebende Freundin, die in der Fremdsprache ebenfalls sehr lange stumm gewesen war, erzählte mir kürzlich, dass sie im Kreißsaal angefangen habe, Spanisch zu sprechen, was mir sofort einleuchtete und mich an meine Situation beim Zahnarzt erinnerte. Die war zwar weniger dramatisch, aber ähnlich im Ergebnis. Aus Verzweiflung und Angst vor einer falschen Behandlung überschüttete ich die arme Zahnärztin mit einem Schwall französisch gemeinter Sätze, begleitet von wildem Gestikulieren, Kopfschütteln, Nicken und großen Augen. In meinen Adern kochte das Adrenalin. Fraglos war die Ärztin bald ähnlich verzweifelt wie ich, aber: Sie stellte die richtige Diagnose, und erlöst von den fürchterlichen Schmerzen fuhr ich zwei Stunden später nach Hause.

Seitdem scheint der Damm irgendwie gebrochen. Es ist nicht so, dass ich auf einmal fließend Französisch sprechen würde, leider. Mein Satzbau ist abenteuerlich, mein Akzent unüberhörbar, und natürlich verwechsle ich im Gefecht Würstchen mit Sorgen, Laune mit Humor und bestimmt auch Blitze mit Glühwürmchen. Trotzdem ist es ein Fortschritt und eine Befreiung, und mein Wortschatz wurde um ein wichtiges Wort bereichert. La pulpite, die Zahnwurzelentzündung.

> F.A.Z., 16.11.2024