Die Schlange
Der beliebteste Fischhändler der Markthalle heißt Chez Patrick, und die Schlange vor seinem Stand ist lang. So lang, dass sie sich den gesamten Stand entlangzieht und weiter entlang des angrenzenden Austern-Stands bis hin zum Charcutier, wo es jeweils ebenfalls kleinere Schlangen gibt, sodass die Wartenden zeitweise in parallelen Schlangen stehen. Ich stehe auf der Höhe der Austern und zähle: noch neun Personen, bis ich dran bin.
Ein paar Minuten später sind es immer noch neun. Nichts bewegt sich, also nichts außer meinem Puls. Ich schaue auf die Uhr. Mein Handy. Trippele auf der Stelle. Mache mit dem Handy ein Foto von den dekorativ aufgeschnittenen und auf Tellern angerichteten Austern, obwohl ich Austern nicht mag. Ich schaue mich um. Suche die Blicke der anderen Wartenden, hoffe auf ein solidarisches Augenrollen, nur ganz kurz und vielleicht ein bisschen verschwörerisch, aber – nichts. Rien. Alle sind ruhig und schauen zufrieden in die Gegend. Niemand scheint ein Problem mit seinem Puls zu haben. Niemand empört sich, dass am Anfang der Schlange jemand steht und sich mit dem Fischfachmann in aller Ruhe über Seebarsch-Rezepte oder über den am besten zu Jakobsmuscheln passenden Weißwein austauscht. Wissen die denn alle nicht, dass die Welt da draußen sich in rasendem Tempo weiterdreht, dass ich am Schreibtisch sitzen müsste, dass das hier – wertvolle Lebenszeit ist? Und überhaupt, sind es nicht, wenn schon, die Briten, die aufs geordnete Schlangestehen spezialisiert sind, das berühmte queueing? Welches ja bereits bei einer einzigen Person beginnen kann. „Are you queueing for bus number 7?“, wurde ich während meines Studiums auf der Insel einmal gefragt, obwohl außer mir in der Nähe der Haltestelle weit und breit niemand zu sehen war.
Wobei – von geordnetem Queueing kann in Frankreich gar nicht die Rede sein. Um den in Großbritannien erwünschten Abstand schert sich hier niemand, im Gegenteil, selbst zu Corona-Zeiten rückte man sich möglichst eng auf die Pelle, und der empfohlene Mindestabstand betrug vielerorts 1 m. Einen Meter! Man hätte sich gleich auf einen Zentimeter einigen können, denn die Franzosen lieben keinen Abstand. Aber auch kein Vordrängeln und keine Hektik. Seelenruhig stehen sie in der Schlange und warten. Auch außerhalb der Markthalle sind sie seelenruhig. Und höflich. Sie hupen nicht. Sie entschuldigen sich, wenn man ihnen mit dem Einkaufswagen über die Füße fährt. Sie reißen ihren Hund an sich mit der verlegenen Behauptung, er sei bösartig (méchant), obwohl sie in Wahrheit nur eine Begegnung mit unserem Hund vermeiden möchten, dem sie dann aber noch freundlich hinterherrufen, wie hübsch er sei. Sie sind großzügig und geduldig mit uns Ausländern, wenn wir endlich an der Reihe sind und das Wort für Steinbutt oder Schnittlauch nicht parat haben.
Keine Frage, in Paris ist die Lage anders. Aber außerhalb von Paris ist sie so wie hier, und langsam wird mir klar, warum Frankreich zu den Ländern mit der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung in Europa zählt und warum hier so großen Wert auf einen frühen Eintritt ins Pensionsalter gelegt wird. Endlich auch wird mir der tiefere Sinn und die Wahrheit klar von Laissez-faire und Savoir-vivre. Beides fängt in der Schlange beim Fischhändler an.
> F.A.S., 06.08.2023