Der Sturm
Schon Tage zuvor hatten die französischen Medien vor dem herannahenden Sturmtief gewarnt. Es gab Wind- und Regenprognosen, Karten, auf denen sich verfolgen ließ, wann und wo der Sturm die Küste treffen würde, im Fernsehen sah man Fischer im Finistère, die ihre Boote und Netze sicherten, und Menschen, die kleine Deiche vor ihren Strandrestaurants bauten. Ich war gebannt. Aber auch entspannt. Unser Häuschen hatte sich schon oft als sturmsicher erwiesen, und außerdem liebte ich Wind. Wind opferte ich jede Frisur (welche Frisur, höre ich Freundinnen fragen), ich besitze die richtigen Jacken, und, ich glaube, die richtige Einstellung. Wenn Wind durch Bäume rauscht, Meereswellen Schaumkronen aufsetzt und die Gischt vor sich hertreibt, bin ich im Glück. War ich im Glück – bis dieser Jahrhundertsturm die Atlantikküste traf und damit auch uns.
Nie hatte ich ein solches Tosen und Donnern gehört, nie das Meer derart wütend gegen die Felsen klatschen sehen, nie gespürt, wie der Wind an allem zerrt, an Fensterläden, Dächern, Bäumen, und irgendwie auch am eigenen Innern. Erstmals hatte ich tiefes Verständnis für frühe philosophische oder religiöse Anschauungen, nach denen sich etwas Größeres hinter Machtdemonstrationen der Natur verbirgt, strafende Götter, Dämonen, im großen Stil orchestrierte Racheaktionen! Vielleicht spielte auch das Gefühl von allgemeiner Zerbrechlichkeit mit hinein, denn was schien noch sicher in dieser Welt?
Obwohl wir, wie wir am nächsten Morgen feststellten, vergleichsweise wenig verloren hatten, spürte ich eine schwere, tiefe Traurigkeit in mir. Die galt nicht den Dachpfannen oder dem WLAN, sondern zwei riesigen alten Bäumen. Einer der beiden, eine wunderschöne Pinie, war vom Grundstück quer über die Straße gestürzt. „Und nun?“, fragten wir die Polizei, die zeitgleich mit uns den Baum betrachtete. „Sollen wir die Feuerwehr rufen?“ „Mais non“, antwortete die Polizei. „Es ist doch Ihr Baum!“ Aber Ihre Straße, wollten wir sagen, was natürlich nicht stimmte, aber konnte es wirklich sein, dass hier nicht die Feuerwehr zuständig war?
Was wir anschließend erlebten, fühlte sich an wie ein Kabinettstück französischer Krisenkultur. Wir riefen beim Bürgermeisteramt an und waren überrascht, überhaupt jemanden zu erreichen. Mehr noch, die freundliche Dame am Telefon sagte, sie würde gleich zwei Kollegen schicken. Die auch zehn Minuten später auftauchten, den Baum betrachteten und sagten, wir müssten ein Unternehmen für Baumarbeiten kontaktieren, ob wir da eine Nummer hätten? Hatten wir nicht, aber man half uns. Keine drei Stunden später war ein konzentriert arbeitendes Team von Männern zur Stelle, die alle aussahen wie junge Ausgaben von Jean Reno und die in Windeseile unsere Pinie in viele kleine Scheiben zersägten. Nachbarn, viele von ihnen ohne Strom, erkundigten sich, wie es uns ging und ob wir etwas brauchten. Ein Mann, den wir von Spaziergängen am Strand und nur aus der Ferne kannten, kam auf uns zu und gab uns die Hand. Dass Menschen sich in Extremsituationen die Hände reichen, ist natürlich eine Binse, aber trotzdem hob all dies meine Stimmung ganz beträchtlich.
Der nächste Sturm, der Ciarán auf dem Fuße folgte, fiel milder aus. Vielleicht hatten die Effizienz des Bürgermeisteramtes und die Freundlichkeit unserer Nachbarn die Götter besänftigt.