Das Baguette
Das Baguette, eine nationale Ikone? Ja, sagt die französische Post, und auch meine eigene Feldforschung in der Sache hat ergeben: Das in Frankreich allgegenwärtige Stangenweißbrot ist kein Klischee. Sein unwiderstehlicher Duft strömt aus jeder Bäckerei, und tatsächlich ragt es zu allen Tageszeiten aus Taschen und Körben, es darf zu keiner Mahlzeit fehlen, gibt Anlass zur Empörung, wenn der Preis ein weiteres Mal um 5 Cent angehoben wurde oder die Kruste nicht auf die richtige Weise knusprig oder das Innere auf die falsche Art fluffig ist.
Dass das Baguette ein nationales Heiligtum ist, wurde 2022 nicht zuletzt durch die Entscheidung der UNESCO besiegelt, es auf die Liste der Immateriellen Kulturgüter zu setzen. Schon viel länger gibt es strengste Auflagen für die Herstellung des „Baguette de tradition française“: Genau vier Zutaten dürfen es sein (Weizenmehl, Wasser, Salz und Hefe oder Sauerteig); 240 bis 310 Gramm darf es wiegen, 55 bis 70 Zentimeter lang sein. Rund sechs Milliarden Baguettes gehen in Frankreich jedes Jahr über den Ladentisch. In Paris gibt es einen jährlich stattfindenden Wettbewerb, bei dem Bäcker der Hauptstadt gegeneinander antreten, der Gewinner darf sich über eine Medaille, Preisgeld und durch die Decke gehende Umsätze freuen und außerdem ein Jahr lang den Élysée-Palast beliefern.
Natürlich traute ich dem Weizenbrothype zunächst nicht und war ständig auf der Suche nach ordentlichem Vollkornbrot, meistens vergeblich. Irgendwann jedoch zerbröselte mein Widerstand gegen das Kulturerbe. Ich verfiel ihm immer mehr, und zwar in allen Variationen, pur, mit salziger Butter und Marmelade, mit saftigem Jambon blanc, mit Pâté, Käse, Schokolade, mit allem eigentlich. Und hat man in Frankreich je jemanden über Gluten und leere Kalorien reden hören? Das Baguette scheint schlicht niemandem zu schaden, nicht mal in hygienischer Hinsicht, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass es kaum verpackt, von allen mit bloßen Händen angefasst und selbst von Hunden nach Hause getragen wird.
In diesem Frühjahr nun – im Vorfeld der Olympischen Spiele wird viel dafür getan, für das kulturelle Erbe der Grande Nation zu werben – wurde am Tag von Saint-Honoré, dem Schutzpatron der Bäcker, dem Nationalheiligtum ein außergewöhnliches Denkmal gesetzt: in Form einer Briefmarke. Sie zeigt ein Baguette, das von einer Schleife in den Farben der Trikolore umwickelt ist. Mehr noch, die Briefmarke ist eine Art Rubbellos: einmal freigerubbelt, verströmt sie den Duft von – Baguette. Also angeblich.
Leider durfte ich mich selbst nicht davon überzeugen, denn als ich wenige Tage nach Veröffentlichung der Briefmarke das örtliche Postamt betrete, schüttelt die Dame hinter dem Schalter bedauernd den Kopf. Leider sei die Marke schon ausverkauft. Meine Enttäuschung ist mir wohl so deutlich anzumerken, dass die Postbeamtin mich aufmunternd anlächelt und sagt, ich möge warten, sie habe etwas anderes für mich. Sie läuft zu einem anderen Schalter und kommt kurz darauf triumphierend mit einem anderen Set Sondermarken zurück. „Charles Aznavour!“, ruft sie, begeistert von ihrer eigenen Idee. „Er wäre dieses Jahr hundert geworden, schauen Sie mal!“ Allein, um diesen freundlichen Versuch zu würdigen, kaufe ich ihr zwölf Briefmarken mit dem Konterfei dieser anderen französischen Ikone ab. Die Marke ist ganz hübsch, gebe ich zu. Und außerdem geruchsneutral, was in diesem Fall vermutlich ein Vorteil ist. Auf den unvergleichlichen Duft von Baguette werde ich so oder so nicht lang warten müssen.