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„Ich lebe mit einem ständigen Gefühl von Überforderung, Unzulänglichkeit und Chaos.“

Till Raether, Schriftsteller

Wie sieht ein normaler oder idealer Arbeitstag für dich aus, was für einen Rhythmus hast du?
Am schönsten ist es für mich, kurz vor sieben aufzustehen, dann bis acht mit der Familie den Tag zu beginnen, vielleicht fange ich dabei schon an, das Mittag- oder Abendessen vorzubereiten. Zwischen acht und zehn versuche ich, mich zu bewegen, beantworte Mails oder lege mich nochmal hin. Dann arbeite ich vormittags zwei bis drei Stunden, bis meine Tochter in der Mittagspause aus der Schule kommt. Nachmittags würde ich gern nochmal zwei bis drei Stunden konzentriert arbeiten und mich dann vorm Abendessen eine Stunde hinlegen. Pro Woche gelingen mir ein bis zwei solche Tage, das finde ich eigentlich schon sehr viel. An den anderen wird dieser Ablauf durch Termine oder Verabredungen unterbrochen. Mindestens einen Tag in der Woche treffe ich mich zum Arbeiten mit einer befreundeten Autorin, bei ihr im Arbeitszimmer oder in wir gehen in die Bibliothek.

 

Kannst du sagen, wie viele Stunden pro Tag du im Durchschnitt netto arbeitest (schreibst, malst, übst)? Wie viel kommt im besten Fall dabei heraus (zwei Seiten, eine Skizze, zwanzig Takte)?
In der ersten Phase der Arbeit an einem Buch schreibe ich so gut wie nichts, ich mache mir höchstens Notizen. Wenn der Abgabetermin näher rückt, teile ich die von mir angestrebte Seitenzahl durch die verbleibenden Arbeitstage und schreibe stur diese Anzahl von Seiten pro Tag. Das sind im Idealfall fünf Seiten Rohfassung, sieben ist leider normal, in Krisenzeiten sind es zehn. Dafür brauche ich je nachdem zwischen zwei und sechs Stunden, und es geht nicht lange gut, klar.

 

Wie viele Stunden kommen durchschnittlich hinzu für „Hintergrundarbeiten“ und alles andere (Recherchen, Bürokram, Akquise, Website, Social Media)? Wie findest du die Balance zwischen all den Aufgaben, die du als freischaffende:r Künstler:in im Blick behalten musst?
Ich glaube, dass ich pro Woche, egal, ob ich in einer Schreibphase bin oder nicht, etwa fünfzehn bis zwanzig Stunden auf diese Hintergrundarbeiten verwende. Dazu kommt dann noch Care-Arbeit, wenn ich ganz genau bin. Ich finde überhaupt keine Balance, null. Ich verdränge Bürokram, ich hasse Buchhaltung, ich lebe mit einem ständigen Gefühl von Überforderung, Unzulänglichkeit und Chaos.

 

Gibt es Wochenenden für dich? Was bedeutet Freizeit?
Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich angefangen, mich zu Wochenenden zu erziehen: An Sonnabenden und Sonntagen schreibe ich nur in absoluten Ausnahmefällen. Aber ich habe am Wochenende hin und wieder Lesungen, andere Termine, Recherchemöglichkeiten. Und meine Lieblingsbeschäftigung in der Freizeit ist Lesen, also etwas, was extrem eng mit meiner Arbeit zu tun hat. Ich kann mich dabei zwar entspannen, aber ich arbeite zugleich ja doch. Damit das unterbrochen wird, habe ich zwei feste Abendtermine unter der Woche, einen für einen Sprachkurs, einen zum Musikmachen. Das empfinde ich vorher immer als lästig, aber ich glaube, es rettet mich.

 

Was ist die größte Gefahr für dein künstlerisches Schaffen, wovon lässt du dich ablenken?
Ich reagiere kindisch, ängstlich und trotzig auf jede Art von Verwaltungs- oder Behördenpost. Die Sorge, mein Leben bürotechnisch nicht im Griff zu haben, raubt mir immer wieder den Mut und die Kraft zum Arbeiten. Es ist ein bisschen erbärmlich.

 

Hast du Strategien, um dich vor Ablenkungen zu schützen?
Wenn meine Angst vor dem Unterlagenchaos zu groß wird, mache ich stur eine Stunde am Tag Ablage und Abrechnungen, aber auch nicht mehr. Den Rest der Zeit kann ich mich dann wieder konzentrieren. Seit Twitter von einem Faschisten übernommen wurde, bin ich kaum noch auf Social Media, früher habe ich dort stundenlang prokrastiniert. Meine größte Ablenkungsgefahr ist, lieber lesen zu wollen, und das finde ich eigentlich ganz schön.

 

Wie sieht deine Arbeitsumgebung aus, was ist essenziell für dich? Brauchst du zum Beispiel absolute Stille – und wenn ja, wo und wie findest du sie?
Ich bin erschreckend anspruchslos. Mein Schreibtisch ist winzig, Geräusche stören mich kaum, oft schreibe ich auf der Bettkante oder am Frühstückstisch.

 

Wann und wo passiert der wichtigste Teil der Arbeit, wo findest du die größte Inspiration? Bei der Arbeit am Schreibtisch oder zufällig – unterwegs, in der Entspannung, auf Reisen, beim Lesen, im Austausch mit anderen Menschen?
Ich reise nicht gern und bin eher introvertiert und schüchtern. Lesen, Filme schauen und Musik hören bringt mich auf Ideen, aber eigentlich kommt die Inspiration während des Schreibens.

 

Wie oft oder leicht kommst du in einen kreativen „Flow“, und was hilft dir am meisten, um diesen Zustand zu erreichen?
Ich gerate beim Schreiben relativ schnell in einen selbstvergessenen, fast tranceartigen Zustand, und dabei hilft mir in bestimmten Phasen, über Kopfhörer relativ laut Musik zu hören, die mir sehr vertraut ist.

 

Was machst du, wenn nichts klappt – wenn Ideen oder Erfolg ausbleiben oder wenn dir nicht das gelingt, was du dir vorgenommen hast?
Je schlechter die Arbeit am Tag gelaufen ist, desto aufwendiger und liebevoller bereite ich das Abendessen zu. Ich habe dann das Gefühl, an diesem Tag trotzdem etwas geschafft zu haben. Ich bin leider sehr davon abhängig, mir meine Produktivität zu beweisen. Wenn mir ein Text misslingt oder ein ganzes Buch sang- und klanglos untergeht, mache ich sofort etwas Neues. Ich muss immer mindestens an zwei Dingen gleichzeitig zu arbeiten, damit ich bei einem Fehlschlag nahtlos zum nächsten Vorhaben übergehen kann.

 

Was hilft dir, wenn dein Selbstvertrauen angeschlagen ist (z.B. wegen schlechter Auftragslage, schlechter Kritiken, finanzieller Flaute, schlechter Stimmung)?
Schlafen, lesen, über meine Feinde lästern.

 

Belohnst du dich, wenn du etwas geschafft, ein bestimmtes Ziel erreicht hast?
Nein, und ich kann nicht begreifen, warum nicht. Ich rate es anderen und tue es nie.

 

Vertraust du auf den Rat anderer oder auf Ratgeber-Literatur? Gibt es Bücher, die dir geholfen haben, Mut zu finden auf deinem künstlerischen Weg?
Ich vertraue auf den Rat von Kolleg*innen und Freund*innen, zu denen mir in den letzten zehn, zwölf Jahren eine Nähe gelungen ist. Diese Nähe und dieses Vertrauen sind mir sehr wertvoll. Die beiden Autobiographien der britischen Autorin Penelope Mortimer, „About Time“ und „About Time Too“, haben mir Mut gemacht, weil ich herausgelesen habe, dass das Leben Chaos und Drama ist, und dass es ein Wunder ist, wenn man inmitten von all dem überhaupt etwas geschrieben, geschweige denn veröffentlicht kriegt.

 

Wie viel bedeutet die Anerkennung deiner Kunst durch andere? Was ist die beste Form der Anerkennung?
Die beste Form der Anerkennung ist, wenn Menschen, die ich kaum oder gar nicht kenne, mir sagen, dass sie ein Buch oder einen Text von mir mit Freude gelesen haben. Die Vorstellung, dass Leute, die beruflich nichts mit Lesen und Schreiben zu tun haben, mir und meinen Gedanken eine Viertelstunde, drei Stunden oder einen halben Tag widmen, verschlägt mir, wenn ich darüber nachdenke, eigentlich den Atem. Der Anerkennung durch Kolleg*innen kann ich leider nicht trauen, weil ich denke, sie wollen mich schonen oder ihr Blick ist durch Freundschaft oder Mitleid getrübt.

 

Wovor hast du Angst?
Es ist mir im Laufe der letzten zwölf Jahre ein- oder zweimal gelungen, fast das Buch zu schreiben, das ich schreiben wollte, und seitdem habe ich beruflich keine Angst mehr.

 

www.tillraether.de
@tillraether