„Ich kann von Glück reden, wenn mir ein Gedicht an einem Tag gelingt.“
Ilma Rakusa, Schriftstellerin & Übersetzerin
Wie sieht ein normaler oder idealer Arbeitstag für dich aus, was für einen Rhythmus hast du? Hast du feste Arbeitszeiten oder sehr unterschiedliche?
Ein normaler Arbeitstag beginnt für mich mit Lesen, vorzugsweise im Bett. Eine halbe Stunde ungeteilter Aufmerksamkeit für einen Text tut gut und stimmt mich auf den Tag ein.
Zum Frühstück in der Küche (Tee, Brot, Käse) lese ich die Neue Zürcher Zeitung, was länger dauern kann. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lasse ich keine Nachrichten aus, mein Leben hat sich stark politisiert. Es folgen Telefonate und Mails. Ohne Dringendes erledigt zu haben, kann ich mich nicht in Ruhe meiner literarischen Arbeit widmen. Oft wird es zwei, bis ich mich – nach einem kleinen kalten Imbiss – hinsetze, um zu schreiben. Das tue ich an einem anderen Computer, mit Aussicht in den Garten. Bis zum Abendessen arbeite ich durch. Im Unterschied zu früher ist der Abend der Lektüre und dem Fernsehen vorbehalten. Auch dem Nachführen meines Tagebuchs.
Kannst du sagen, wie viele Stunden pro Tag du im Durchschnitt netto arbeitest (schreibst, malst, übst?) Wie viel kommt im besten Fall dabei heraus (zwei Seiten, eine Skizze, zwanzig Takte)?
Sechs Stunden dürften es im Schnitt sein. Zwei Seiten, wenn es gut läuft. Beim Übersetzen auch mal drei. Beim Gedichteschreiben misst sich der „Ertrag“ nicht in Seiten. Ich kann von Glück reden, wenn mir ein Gedicht an einem Tag gelingt. Was freilich nicht heißt, dass ich es danach nicht überarbeite. Nicht Quantität zählt, sondern Qualität. Zu Tempo lasse ich mich nicht drängen.
Wie viele Stunden kommen durchschnittlich hinzu für „Hintergrundarbeiten“ und alles andere (Recherchen, Bürokram, Akquise, Website, Social Media)? Wie findest du die Balance zwischen all den Aufgaben, die du als freischaffende:r Künstler:in im Blick behalten musst?
Ich versuche, Lästiges zu bündeln, d.h. auf wenige Stunden pro Woche zu konzentrieren, denn ein ständiges Hin und Her halte ich nicht aus. In den sozialen Medien betätige ich mich gar nicht, was mein Zeitkonto und meine Nerven schont.
Gibt es Wochenenden für dich? Was bedeutet Freizeit?
Noch nie habe ich zwischen Arbeit und Freizeit unterschieden, denn meine Arbeit ist zugleich meine Passion. Gerade an Wochenenden genieße ich es, mich ungestört der Arbeit hingeben zu können – mit Open End. Die einzig erwünschte Ablenkung sind meine beiden Enkelkinder. Für sie bin ich jederzeit da.
Was ist die größte Gefahr für dein künstlerisches Schaffen, wovon lässt du dich ablenken?
Im Grunde ist es der Alltagskram, wenn er seinen Tribut fordert. Er lenkt meine Zeit und meine Gedanken in eine völlig andere Richtung, und es fällt mir schwer, mich wieder in die schöpferische Arbeit einzuklinken. Bei Berufsreisen ist das anders, obwohl auch sie manchmal zu störenden Unterbrechungen führen. Jede Zäsur ist ein potenzielles Problem, man wünscht sich, in einem Flow zu sein, der einen weiterträgt.
Hast du Strategien, um dich vor Ablenkungen zu schützen?
Es kann vorkommen, dass ich nicht ans Telefon gehe oder einen Termin absage, um arbeiten zu können. Selbstgemachte Ablenkungen kenne ich kaum, es sind äußere Anforderungen, die mich von der Arbeit abhalten. Meine Losung heißt: Konzentration. Zum Glück bin ich ziemlich gut darin, mich zu konzentrieren.
Wie sieht deine Arbeitsumgebung aus, was ist essenziell für dich? Brauchst du zum Beispiel absolute Stille – und wenn ja, wo und wie findest du sie?
Eigentlich kann ich nur zu Hause arbeiten, umgeben von meinen Büchern und mit Blick in den Garten. Die Bücher sind extrem wichtig: sie sind nicht nur Arbeitsinstrument, sondern auch Dialogpartner. Und sie sind lautlos. Zum Arbeiten brauche ich Stille. Musik mag ich sehr, aber nicht bei der Arbeit, denn sie lenkt mich von meiner eigenen inneren Stimme ab. Diese muss ich hören, als Ohrenmensch bin ich sehr auf das Gehör fixiert. In meinen vier Wänden, mit dem Fenster ins Grüne, finde ich die nötige Stille, um in mich hineinhorchen zu können.
Wann und wo passiert der wichtigste Teil der Arbeit, wo findest du die größte Inspiration? Bei der Arbeit am Schreibtisch oder zufällig – unterwegs, in der Entspannung, auf Reisen, beim Lesen, im Austausch mit anderen Menschen?
Inspiration hole ich mir überall: in der Natur, in Träumen, auf Reisen, im Gespräch mit Freunden, beim Lesen, im Schlaf. Für Gedichte kann alles ein Auslöser sein: ein bestimmter Lichteinfall, das gluckernde Geräusch der Heizung, ein Satzfragment, eine Kindheitserinnerung, ein Foto, ein Vogelschrei usw. Bevor ich mich an den Schreibtisch setze, ist da schon etwas, das in mir nach Ausdruck verlangt. Am Schreibtisch dann versuche ich, es hervorzuholen, zu sortieren, in eine Form zu bringen. Hier beginnt die Arbeit. Auf Reisen, im Zug oder Flugzeug, kann ich höchstens Notizen machen, Arbeiten geht nicht. Erst das stabile Rechteck meines Schreibtischs versetzt mich in jenen konzentrierten Zustand, der Arbeit ermöglicht.
Wie oft oder leicht kommst du in einen kreativen „Flow“, und was hilft dir am meisten, um diesen Zustand zu erreichen?
Ich brauche Stille, Zeit, Konzentration. Schreiben ist für mich eine Art Meditation, also eine sehr kontemplative Tätigkeit, die aus sich selbst eine Eigendynamik entwickelt. Je mehr ich in die Worte hineinhorche, desto mehr geben sie her. Wie genau das geschieht, weiß ich oft selbst nicht, das ist das Faszinierende am Schreiben. Ich lenke – und werde gelenkt. Ich denke – und werde gedacht. Solche Momente sind beglückend. Irgendwann setzt die Kontrolle ein, das handwerkliche Knowhow. Aber der Flow ist unentbehrlich.
Was machst du, wenn nichts klappt – wenn Ideen oder Erfolg ausbleiben oder wenn dir nicht das gelingt, was du dir vorgenommen hast?
Diese Situation kenne ich wenig, da ich verschiedene literarische Sparten/Register bediene. Wenn es mit dem Schreiben partout nicht klappt, übersetze ich oder schreibe Buchrezensionen. Dadurch bin ich immer beschäftigt, sinnvoll beschäftigt, was mir wichtig ist. Gedichte schreibt man nicht auf Abruf, Rezensionen aber kriege ich hin, auch wenn anderes nicht läuft. Und beim Übersetzen habe ich einen Text vor mir liegen, den ich nicht erfinden, sondern möglichst genau wiedergeben muss. Auf diese Art von Kreativität ist fast immer Verlass. – Die Sache mit dem Erfolg gehört auf ein anderes Blatt. Man sollte sich nicht zu sehr vom Erfolg abhängig machen.
Was hilft dir, wenn dein Selbstvertrauen angeschlagen ist (z.B. wegen schlechter Auftragslage, schlechter Kritiken, finanzieller Flaute, schlechter Stimmung)?
Weitermachen. Und lesen. Welcher Schriftsteller hat nicht Krisen durchgemacht? Die russische Dichterin Marina Zwetajewa, mit der ich mich seit nachgerade fünfzig Jahren intensiv beschäftige, hatte ein unbeschreiblich kompliziertes und tragisches Leben – und hat doch nie aufgegeben. Ich habe viel von ihr übersetzt, auch Persönliches wie Briefe und Notizbücher, das hat mich resilienter gemacht. Und die Herausgabe einer vierbändigen Werkausgabe für Suhrkamp verbietet es mir, zu resignieren.
Belohnst du dich, wenn du etwas geschafft, ein bestimmtes Ziel erreicht hast?
Ich freue mich. Doch der Flow des Weitermachens ist mir wichtiger. Man kommt ja nie an ein Ende.
Vertraust du auf den Rat anderer oder auf Ratgeber-Literatur? Gibt es Bücher, die dir geholfen haben, Mut zu finden auf deinem künstlerischen Weg?
Ratgeber-Literatur habe ich nie benutzt, doch das Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen hat mir immer viel bedeutet. Auch der Austausch mit einigen Autoren, die ich übersetzt habe: Péter Nádas, Imre Kertész, Danilo Kiš. Als Übersetzer blickt man tief in die Werkstatt eines Autors, das hat mir sehr viel gegeben, ergänzend kam der persönliche Kontakt hinzu. Danilo Kišs poetologische Essays gehören für mich noch immer zum Besten, was über Literatur und literarische Entstehungsprozesse geschrieben wurde. Und beim Übersetzen seiner großartigen Romane „Sanduhr“ und „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ habe ich eine Menge gelernt, obwohl ich selber keine Romane schreibe. Es war eine Sprachschulung ersten Ranges.
Wie viel bedeutet dir Anerkennung deiner Kunst durch andere? Was ist die beste Form der Anerkennung?
Natürlich freue ich mich über Preise und Anfragen, freue mich, dass es mittlerweile interessante Studien zu meinen Büchern gibt. Und freue mich besonders, wenn meine Bücher in andere Sprachen übersetzt werden. Mein Erinnerungsbuch „Mehr Meer“ wurde in 13 Sprachen übersetzt, darunter auch ins Japanische und Arabische. Die Vorstellung, in anderen Kulturräumen gelesen zu werden, finde ich ungemein reizvoll.
Literatur hat für mich etwas Dialogisches: Beim Schreiben knüpfe ich an vieles an, was meine Vorgänger geschaffen haben. Und so wünschte ich mir auch, dass andere an mein Schreiben anknüpfen. Ich sehe mich als Glied einer langen Kette. Wobei jedes noch so kleine Glied zählt. Ist das zu idealistisch oder gar anmaßend? Ich glaube nicht.
Wovor hast du Angst?
Meine persönlichen Ängste könnte ich in einer langen Liste aufzählen, aber das ginge zu weit. Zumal es mehr und mehr Ängste gibt, die uns alle umtreiben. Da sind der schreckliche russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Krieg in Nahost, deren Ende nicht abzusehen ist. Da ist die Sorge um das Klima, um den Vormarsch autoritärer Regime, um die Widerstandskraft der Demokratien. Eine Pandorabüchse ist auch die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Welche Welt uns in zwanzig, dreißig Jahren erwartet – wir wissen es nicht. Die Verunsicherung jedenfalls ist groß.
Um nicht so düster zu enden, zitiere ich mein „Gedicht gegen die Angst“ aus dem Band „Impressum: Langsames Licht“. Ich habe es als Abwehrzauber geschrieben, in der Hoffnung, dass er bei vielen Lesern und Leserinnen wirkt:
Streichle das Blatt
küsse den Hund
tröste das Holz
hüte den Mund
zähme den Kamm
reime die Lust
schmücke den Schlaf
plätte den Frust‘
neige das Glas
wiege das Buch
liebe die Luft
rette das Tuch
schaue das Meer
rieche das Gras
kränke kein Kind
iss keinen Frass
lerne im Traum
schreibe was ist
nähre den Tag
forme die Frist
lenke die Hand
eile und steh
zögere nicht
weile wie Schnee
öffne die Tür
lade wen ein
schenke dich hin
mache dich fein
prüfe dein Herz
geh übers Feld
ruhe dich aus
rühr an die Welt