„Telefonieren ist für mich wie Flurfunk unter Freien.“
Dirk Liesemer, Autor & Journalist
Wie sieht ein normaler oder idealer Arbeitstag für dich aus, was für einen Rhythmus hast du?
Ich arbeite im Grunde ständig, jedenfalls suche ich immer nach Themen, aber damit nicht alles durcheinandergerät, halte ich mich mittlerweile an recht klare Strukturen, sie haben sich so eingespielt, machen vieles einfacher, zumal ich nebenher als Redakteur arbeite und ja alles zu seinem Recht kommen will. Und so sieht der ideale Arbeitstag aus: Nach dem Aufstehen trinke ich ein, zwei Kaffee, gefrühstückt wird später, dann ein wenig Italienisch, etwas Gitarre, gefolgt von der Presseschau im Radio, ab Punkt neun sitze ich am Schreibtisch, wo ich mit einer längeren Mittagspause und nicht gerade wenigen kurzen Unterbrechungen den Tag bis achtzehn Uhr verbringe. Wenn ich nicht Freunde treffe, finden danach allgemeinere Recherchen statt, die kaum vom Vergnügen zu unterscheiden sind, also Zeitung und Bücher lesen, Dokus oder Fiction schauen.
Kannst du sagen, wie viele Stunden pro Tag du im Durchschnitt netto arbeitest (schreibst, malst, übst)? Wie viel kommt im besten Fall dabei heraus (zwei Seiten, eine Skizze, zwanzig Takte)?
Effektiv sollten es sechs, sieben Stunden mehr oder weniger konzentrierte Arbeit sein, gelingt nicht immer, schon weil sich zuweilen Kollegen zum Plaudern melden. Und klar, ich rufe auch mal ungefragt jemanden an, allerdings weiß ich auch, bei wem ich das darf. Für mich ist das Flurfunk unter Freien, unbezahlt, aber kostbar. Ansonsten bin ich ein pedantischer Schreibbürokrat geworden: Für jeden Tag, jede Woche, jeden Monat und bei Buchprojekten auch darüber hinaus weiß ich recht genau, was ich bis wann geschafft haben will – und eben auch muss. Mag zwanghaft oder langweilig klingen, ist jedoch eine Form von Selbstverteidigung: Ich habe einfach keine Lust auf ein leeres Konto, auf Nachtschichten oder übermäßige Wochenendarbeit. Dass ich meine Ziele selten einhalte und ständig nachjustieren muss, stört nicht weiter, solange das große Ganze nicht aus dem Blick gerät. Das Kalkulieren mit Seitenzahlen, das du ja in deiner Frage angeschnitten hast, funktioniert nur bedingt, an manchen Tagen geht es nämlich vor allem ums Kürzen und Verdichten. Mein Rekord liegt, wenn ich mich recht erinnere, bei 45.000 gelöschten Zeichen an einem Tag, also 25 Manuskriptseiten. Trotzdem hatte ich abends das Gefühl, richtig gut was geschafft zu haben. Zumindest dürfte das Buch handlicher geworden sein.
Wie viele Stunden kommen durchschnittlich hinzu für „Hintergrundarbeiten“ und alles andere (Recherchen, Bürokram, Akquise, Website, Social Media)? Wie findest du die Balance zwischen all den Aufgaben, die du als freischaffender Künstler im Blick behalten musst?
Recherche und Schreiben laufen ständig parallel. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar – und zwar bis zur Textabgabe. Die Zeit für Bürokram, Internetseite und Social Media ist sehr überschaubar, wird auch eher am Wochenende erledigt. Akquise rechne ich zur normalen Arbeitszeit.
Gibt es Wochenenden für dich? Was bedeutet Freizeit?
Klar, die gibt es, an Wochenenden sitze ich zwar auch oft ein wenig am Schreibtisch, aber dann wird liegengebliebener Prüttelkram erledigt, irgendwann muss ja auch mal Schluss mit Selbstverwirklichung sein.
Was ist die größte Gefahr für dein künstlerisches Schaffen, wovon lässt du dich ablenken?
Am gefährlichsten sind verlockende journalistische Aufträge, die ich nicht absagen möchte, obwohl ich ahne, dass sie zu viel Zeit fressen.
Hast du Strategien, um dich vor Ablenkungen zu schützen?
In einem gewissen Rahmen finde ich Ablenkungen hilfreich, zuweilen führen sie zu neuen Ideen, man muss sich also auch mal treiben lassen. Dagegen anzukämpfen, kostet zu viel Kraft. Nehmen sie überhand, heißt das nichts anderes, als dass ich eine Pause brauche, mal aufstehen muss, weg vom Computer, einen Tee kochen, raus gehen. Wenn eine Abgabe ansteht, habe ich ein klares Ziel vor Augen, sodass keine Zeit für Ablenkungen bleibt. Manchmal helfen alle Vorsätze nichts, dann breche lieber frühzeitig ab, gehe joggen, mache eine Radtour. Nichts finde ich schlimmer, als einen gesamten Tag unproduktiv verdaddelt zu haben.
Wie sieht deine Arbeitsumgebung aus, was ist essenziell für dich? Brauchst du zum Beispiel absolute Stille – und wenn ja, wo und wie findest du sie?
Stille ist weniger wichtig, aber ich muss in ein Thema abtauchen können. Bei der Arbeit an „Café Größenwahn“ habe ich deshalb Fotos aller meiner Protagonisten an die Wand gehängt. Ich wollte ihnen nahe sein, ihnen in die Augen schauen, sie verstehen, in Franziska Gräfin zu Reventlow habe ich mich dabei verguckt, während ich über Peter Altenberg den Kopf schütteln konnte. Absolute Stille brauche ich nur in den ersten Schreibphasen, bis der Text mehr oder weniger steht. Beim Feinschliff geht es nicht ohne Musik, sie hilft mir, einen notwendigen Abstand zum Geschriebenen aufzubauen. Ich höre dann leise Sting, Villa-Lobos, Soha, Hindi Zahra, Mozart oder auch mal Tote Hosen.
Wann und wo passiert der wichtigste Teil der Arbeit, wo findest du die größte Inspiration? Bei der Arbeit am Schreibtisch oder zufällig – unterwegs, in der Entspannung, auf Reisen, beim Lesen, im Austausch mit anderen Menschen?
Neue Themen finde ich überall, in Büchern, in Gesprächen, beim Radiohören. Was die Inspiration angeht: Sie kommt beim Schreiben und aus dem Handgelenk. Es mag schräg klingen, aber ich bewege mich am Schreibtisch immerzu, nicht viel, aber beständig, mit den Fingern, dem Oberkörper. Statt grübelnd auf einem Satz zu starren, tippe ich lieber Unsinn in die Tastatur. Manches taugt wider Erwarten, anderes wird halt am nächsten Tag gestrichen, umgestellt oder neu formuliert.
Wie oft oder leicht kommst du in einen kreativen „Flow“, und was hilft dir am meisten, um diesen Zustand zu erreichen?
Dazu muss ich mich erst in ein Thema eingrooven, was oft heißt, dass zwei, drei Tage zäh verstreichen. Sobald ich im Flow bin, sollte sich keine größere Arbeit dazwischenschieben, vor allem anfangs nicht, sonst brauche ich erneut einen Anlauf. Jürgen Klopp würde sagen: Dirk, dein Umschaltspiel dauert zu lang. Für größere Projekte halte ich mir deshalb zu Beginn einige Tage frei, später ist das weniger wichtig, dann bin ich schnell wieder im Thema drin – und damit im Flow.
Was machst du, wenn nichts klappt – wenn Ideen oder Erfolg ausbleiben oder wenn dir nicht das gelingt, was du dir vorgenommen hast?
Ideen sind nicht das Problem, schwieriger finde ich, gute von schlechten Ideen zu unterscheiden, aber dazu habe ich Menschen, mit denen ich mich austauschen kann – oder streiten, wenn sie mir nicht recht geben wollen. Und Erfolg, klar, will man haben, ich auch, aber der lässt sich weder planen noch erzwingen. Ich sehe das also locker, zumindest in der Theorie: Ich kann nur meine Ideen so gut wie möglich umsetzen, ob sich das Buch später verkauft oder besprochen wird, das liegt nicht in meiner Hand. Und auch nicht unbedingt in der eines Verlages.
Was hilft dir, wenn dein Selbstvertrauen angeschlagen ist (z.B. wegen schlechter Auftragslage, schlechter Kritiken, finanzieller Flaute, schlechter Stimmung)?
Lamentieren, schimpfen, mosern, gerade auch dann, wenn man ahnt, dass die anderen recht haben könnten, egal, die Welt ist mies, der Ärger muss raus, alles ist besser als Autoaggression. Was mir noch hilft: Geduld, Sport, Actionfilme, Essengehen, Cocktails schlürfen, Shoppen, Freunde treffen – und eben Weiterarbeiten. Ein wenig mit jemandem über den ganzen verfluchten Scheiß zu reden, ist auch gut. Ausufern sollten solche Gespräche nicht, sonst dreht man sich nur im Kreis. Am nächsten Tag beginnt ohnehin wieder ein neues Spiel.
Belohnst du dich, wenn du etwas geschafft, ein bestimmtes Ziel erreicht hast?
Nein, sonst müsste ich ja oft monatelang warten, da fehlt mir dann doch die Geduld.
Vertraust du auf den Rat anderer oder auf Ratgeber-Literatur? Gibt es Bücher, die dir geholfen haben, Mut zu finden auf deinem künstlerischen Weg?
Ich lese Romane, die mir gefallen, mittlerweile drei, vier Mal gleich hintereinander, darunter übrigens „Gentleman über Bord“. Mal achte ich mehr auf dieses, mal auf jenes. Ratgeber habe ich ein paar wenige gelesen, lustigerweise hat mir ein Buch des Sportpsychologen Michele Ufer über Mentaltraining für Läufer weitergeholfen; ich bin zwar kein Läufer, aber die Frage, wie man sich innerlich auf eine Langstrecke vorbereitet, lässt sich ja auf die Arbeit an Büchern übertragen. Aktuell lese ich eher Fachbücher, super fand ich „Populärer Realismus“ von Moritz Baßler, zudem „Die Kunst des Erzählens“ von James Wood, nicht schlecht sind auch „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar und „Erzählen“ von Volker Klotz, als nächstes ist „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ von George Saunders an der Reihe.
Wie viel bedeutet die Anerkennung deiner Kunst durch andere? Was ist die beste Form der Anerkennung?
Uff, schwierige Frage, zumal mir das Wort „Kunst“ nicht behagt, aber sei‘s drum. Klar, mich freuen gute Verkaufszahlen und kluge Rezensionen. Vielleicht ist für mich die höchste Form der Anerkennung, wenn jemand wissen will, an welchem Buch ich als Nächstes arbeite und wann es erscheinen wird. Ganz schlimm wird meine Eitelkeit gepinselt, wenn jemand das Buch bei mir vorbestellen möchte, was mich zwar freut, aber er oder sie soll sich das Buch doch lieber in einer Buchhandlung kaufen; ohne sie sind wir Autoren nichts.
Wovor hast du Angst?
Dass ich einem Verlag eine Buchidee verkaufe, die sich nicht umsetzen lässt, was mindestens einmal fast passiert wäre. Schließlich lässt sich bei Sachbüchern die Quellenlage ja vorab nicht en détail recherchieren, aber selbst wenn eines Tages eine Bruchlandung erfolgen sollte, werde ich die überleben.
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