„Ich schreibe hauptsächlich in Wartehallen deutscher Bahnhöfe – dazu hat mich die Bahn erzogen, dort verbringe ich auch die meiste Lebenszeit.“
Alexander Estis, Schriftsteller
Wie sieht ein normaler oder idealer Arbeitstag für dich aus, was für einen Rhythmus hast du? Hast du feste Arbeitszeiten oder sehr unterschiedliche?
Ich bin ein Chaot mit Ordnungsneurose: Für den Tag, die Woche, den Monat mache ich mir Arbeitspläne, die ich strikt ignoriere; ich stelle mir einen Wecker auf den frühen Morgen, würge ihn ab und stehe am Nachmittag auf; setze mich dann an die dringend fällige Kolumne – und arbeite bis in die Morgenstunden an einer Prosaminiatur, auf die niemand wartet. Das Patentrezept meiner Organisiertheit besteht darin, eine präzise Hierarchie zu eruieren und auf deren Basis zunächst das Wichtigste und dann erst das weniger Wichtige aufzuschieben. Das nenne ich strukturierte Prokrastination.
Insofern kommt es ganz auf den Tag an: An dem einen ist mein Tagesablauf völlig ungeregelt, am nächsten komplett chaotisch, am dritten absolut durcheinander und am vierten gönne ich mir eine Pause von dieser Routine und lebe einfach in den Tag hinein…
Tatsächlich ist es mir schon aufgrund der Zeitstruktur der verschiedenen Aufgaben kaum möglich, einen auch nur halbwegs konstanten Tagesrhythmus einzuhalten. Wie sollte das gehen, wenn an dem einen Morgen die Redaktion um acht Uhr anruft, weil etwas Dringendes ansteht, ich dann die Nacht wegen einer gekonnt ausgeblendeten Deadline durcharbeiten und daher den kommenden Tag über schlafen muss, dann wieder früh in den Zug steige, um abends bei einer Lesung zu sein…?
Kannst du sagen, wie viele Stunden pro Tag du im Durchschnitt netto arbeitest (schreibst, malst, übst)? Wie viel kommt im besten Fall dabei heraus (zwei Seiten, eine Skizze, zwanzig Takte)?
Der Durchschnittswert ist für mich schwer zu ermitteln und wäre wohl wenig aussagekräftig – denn an dem einen Tag komme ich gar nicht zum Schreiben, außer dass ich vielleicht Mails beantworte, an dem anderen Tag schreibe ich 24 Stunden durch (das kommt selten, aber doch vor).
Bei journalistischen Texten können an einem langen Arbeitstag mit anschließender Arbeitsnacht über fünf Seiten entstehen – natürlich wenn die Recherche abgeschlossen ist. Was literarische Texte angeht, bin ich froh, wenn ich an einem Tag ausnahmsweise mehr schreibe, als ich kürze.
Wie viele Stunden kommen durchschnittlich hinzu für „Hintergrundarbeiten“ und alles andere (Recherchen, Bürokram, Akquise, Website, Social Media)?
An vielen Tagen überwiegen solche Hintergrundarbeiten leider – sie werden also ungefragt zu Vordergrundarbeiten.
Wie findest du die Balance zwischen all den Aufgaben, die du als freischaffende:r Künstler:in im Blick behalten musst?
Balance? Was ist Balance? Ich bin zufrieden, wenn ich einigermaßen schaffe, meine Aufgaben überhaupt im Blick zu behalten. Dabei helfen mir endlose Listen – von denen es inzwischen so viele gibt, dass ich auch sie kaum noch im Blick behalten kann.
Gibt es Wochenenden für dich? Was bedeutet Freizeit?
Es gibt Wochenenden – und sie sind die beste Zeit zum Arbeiten. Keine Nachrichten, keine Anrufe, keine Ablenkungen.
Ich trenne kaum zwischen Arbeit und Freizeit. Natürlich gibt es einerseits solche Zeiten, an denen man am Schreibtisch sitzt, andererseits solche, an denen man spaziert oder schwimmt oder herumliegt. Aber die Frage, wann man mehr und intensiver arbeitet, hängt nicht zwingend damit zusammen.
Was ist die größte Gefahr für dein künstlerisches Schaffen, wovon lässt du dich ablenken?
Die größte Gefahr für ein bereits begonnenes künstlerisches Vorhaben sind für mich andere, fast schon begonnene künstlerische Vorhaben.
Ansonsten ist das eine sehr komplexe Frage, weil sie eine klare Trennlinie voraussetzt zwischen künstlerischem Schaffen und allem, was man als Ablenkung bezeichnen könnte. In einer extremen Sicht wäre das ganze Leben eine einzige Ablenkung; in einer entgegengesetzten wäre alles auf die eine oder andere Weise Teil des künstlerischen Arbeitsprozesses. Ich bekenne mich zumindest ein Stückweit dieser zweiten Sicht schuldig: Begegnungen, Gespräche, Lektüren, Konzerte, Filme – die eine oder andere „Ablenkung“ mag für die Arbeit weitaus wichtiger sein als stundenlange Grübeleien vor dem Schreibtisch. Ohne letztere geht es indes auch nicht.
In Abwandlung eines bekannten Aphorismus ist mein Motto jedenfalls: Kunst ist die schönste Hauptsache der Welt.
Klar ist immerhin, dass bürokratische und administrative Aufgaben in künstlerischem Sinne nicht gerade bereichernd und für mich daher am ehesten als störende Ablenkungen einzuordnen sind. Sie bleiben aber insofern nur eine begrenzte Gefahr, als sie keinerlei Verführungspotenzial haben und ich alles dafür unternehme, um sie mir soweit irgend möglich vom Leibe zu halten. Die Vervollkommnung dieser Vermeidungsstrategien wiederum kann durchaus zu einer zeitintensiven Ablenkung werden.
Hast du Strategien, um dich vor Ablenkungen zu schützen?
Meine wichtigste Strategie für die besseren Ablenkungen ist, wie schon angedeutet: Sie zum Teil meiner Arbeit umzudeuten und sich ihnen auf diese Weise guten Gewissens hinzugeben.
Für den Rest habe ich folgende Vorgehensweise. Ich stehe meist im Morgengrauen auf – vom Schreibtisch. Mein Arbeitstag besteht dann aus Schlaf. Der Vorteil: Wenn ich spätnachmittags ans Schreiben gehe, hat sich die Hälfte der Nachrichten und Fragen, die im Laufe des Tages eintreffen, bereits von selbst erledigt.
Wie sieht deine Arbeitsumgebung aus, was ist essenziell für dich? Brauchst du zum Beispiel absolute Stille – und wenn ja, wo und wie findest du sie?
Ich bin professionell vagabundierender Prosaist. Ich schreibe hauptsächlich in Wartehallen deutscher Bahnhöfe – dazu hat mich die Bahn erzogen, dort verbringe ich auch die meiste Lebenszeit.
Aber am liebsten gehe ich zum Arbeiten ins Kaffeehaus, wo ich wegen des Lärms nicht arbeiten kann; daher versuche ich dort einfach, mir den Anstrich der Arbeitsamkeit zu verleihen, was immense Anstrengung erfordert. Ermüdet kehre ich nach Hause zurück, schließe mich ein, greife zu Ohropax – und merke, dass ich inzwischen zum Arbeiten zu erschöpft bin.
Wann und wo passiert der wichtigste Teil der Arbeit, wo findest du die größte Inspiration? Bei der Arbeit am Schreibtisch oder zufällig – unterwegs, in der Entspannung, auf Reisen, beim Lesen, im Austausch mit anderen Menschen?
Alles davon kann zutreffen – je nach Phase und je nach Art der Arbeit. Aber für den Begriff Inspiration gilt: Inspiration ist nur eine Ausrede dafür, dass sie oft fehlt.
Wie oft oder leicht kommst du in einen kreativen „Flow“, und was hilft dir am meisten, um diesen Zustand zu erreichen?
Die Antwort ist ganz einfach: Die Deadline!
Was machst du, wenn nichts klappt – wenn Ideen oder Erfolg ausbleiben oder wenn dir nicht das gelingt, was du dir vorgenommen hast?
Mit aller Hingabe verzweifeln.
Was hilft dir, wenn dein Selbstvertrauen angeschlagen ist (z.B. wegen schlechter Auftragslage, schlechter Kritiken, finanzieller Flaute, schlechter Stimmung)?
Mir hilft meist schon die Gewissheit, dass längst nicht alles, was man schreibt, gut ist, und längst nicht alles, was kritisiert wird, schlecht.
Belohnst du dich, wenn du etwas geschafft, ein bestimmtes Ziel erreicht hast?
Definitiv! Und wenn ich etwas nicht geschafft habe, tröste ich mich just mit denselben Dingen, mit denen ich mich belohnt hätte.
Vertraust du auf den Rat anderer oder auf Ratgeber-Literatur? Gibt es Bücher, die dir geholfen haben, Mut zu finden auf deinem künstlerischen Weg?
Ein Rat, den ich meist befolge, lautet: „Nimm jede Anregung dankbar an. Jede Anregung ist ein Geschenk. Lasse dir daher jede Anregung als Geschenk verpacken und überreichen und platziere sie in einer Vitrine.“
In Textfragen vertraue ich vor allem auf den Rat meines Vaters. Der entscheidende Vorteil: Er kann, da er nie richtig Deutsch gelernt hat, meine Texte kaum verstehen. Daneben gibt es einige ausgesuchte Menschen, auf deren Hinweise ich höre, deren sprachlichem Gehör ich vertraue. Darunter sind hervorragende Redakteurinnen und Lektoren, mit denen ich gern und mit Gewinn über Sprach- und Stilfragen streite (ob sie es auch so gern tun, ist unbekannt).
Aber am Ende bleibt man doch meist mit dem Text allein – und am besten ist es sogar, wenn man auch selbst so gut wie nicht mehr da ist, sondern nur noch der Text.
Wie viel bedeutet die Anerkennung deiner Kunst durch andere? Was ist die beste Form der Anerkennung?
Ein kleines Denkmal, ein paar nach mir benannte Straßen und vor allem eine lebenslange Jahresrente in bescheidener siebenstelliger Höhe wären gewiss nette Gesten der Anerkennung und für mich schon beinah zufriedenstellend.
Solange ich darauf warten muss, genügt es zu wissen, dass die Lektüre meiner Texte für den einen oder anderen einigermaßen erträglich war.
Wovor hast du Angst?
Einerseits davor, zu wenig zu schreiben. Andererseits noch viel mehr davor, zu viel zu schreiben.