Der Austernautomat
Wenn ich als Kind in den glücklichen Umstand geriet, ein wenig Münzgeld in den Händen zu halten, so wog ich jedes Mal zwei gleichermaßen unwiderstehliche Möglichkeiten sorgfältig gegeneinander ab: Bäckerei Löscher, wo es Brauseplättchen in drei verschiedenen Farben gab für je 1 Pfennig pro Stück, oder der rote Kaugummiautomat an der Seitenwand eines Chinarestaurants. Vorteil Brauseplättchen: Ich wusste genau, was ich bekam. Vorteil Kaugummiautomat: Er war die pure Verheißung. 10 Pfennig einzuwerfen in den Münzschlitz, das kurze Klackern, wenn der Groschen in den Münzschacht fiel, das Klicken und Ratschen beim Drehen des Metallknaufs, dann schließlich der entscheidende Moment, wenn die Kaugummikugel mit sanftem Plopp in der Metallschublade landete: Dieses Gefühl werde ich nie vergessen. Es folgten weitere Automatenerfahrungen in meinem Leben, Geld, Zigaretten, Fahrscheine, Snacks, doch keiner verfügte auch nur annähernd über die Magie dieses Kaugummiautomaten.
Immerhin, als ich vor einigen Jahren in Frankreich einen Baguette-Automaten entdeckte, wurde ich erstmals wieder in echtes Erstaunen versetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht begriffen, dass es bei diesem mittlerweile zum UNESCO-Welterbe erhobenen Nationalheiligtum nicht nur um Preis und Knusprigkeit geht, sondern ganz wesentlich um seine Verfügbarkeit. Denn Baguette wird zu sämtlichen Mahlzeiten und überhaupt immer gegessen, in der Liste der lebensnotwendigen Dinge kommt es vermutlich direkt nach Wasser und Wein und deutlich vor WLAN.
Anders als, zum Beispiel, Austern. Dachte ich. Doch Frankreich, deutlich reicher an Überraschungen als selbst der am buntesten gefüllte Kaugummiautomat der 70er Jahre, bescherte mir kürzlich erneut einen Moment ungläubigen Staunens – diesmal in Gestalt eines Austernautomaten. „Falls es einen spontan danach verlangt“, so wurde mir der aus zahlreichen Einzelkühlfächern bestehende Apparat schulterzuckend erklärt.
Ich gestehe: Kaum ein spontanes Verlangen ist mir fremder als das nach einer Auster. Natürlich ist mir bewusst, dass es hier keine Grauzone gibt, denn kein Mensch mag Austern ein bisschen. Man liebt sie, oder man hasst sie. Frankreich jedoch scheint sie mehrheitlich zu lieben und ihr auf der breiten Skala zwischen Delikatesse und Fastfood geradezu molluskenhafte Flexibilität zu gewähren. Es gibt sie zu den festlichsten Anlässen, es gibt sie morgens auf dem Markt, und es gibt sie – aus dem Automaten.
Letztere haben seit etwa 2010 Konjunktur, vor allem in den wichtigen Zuchtgebieten der Bretagne und der Normandie. Außer den Kunden mit ihren unberechenbaren Gelüsten profitieren vor allem die Austernzüchter von ihnen: Da Austernbänke bei Flut unter Wasser stehen und für die Ernte und Pflege nur bei Ebbe erreichbar sind, hängen ihre Arbeitszeiten vollständig vom Gezeitenkalender ab. Nicht selten müssen sie nachts rausfahren oder genau dann, wenn tagsüber ihr Geschäft geöffnet sein sollte. Hier bieten die Automaten eine unkomplizierte Einnahmequelle, zumal die Körbe nur alle zwei bis drei Tage ausgetauscht werden müssen. Wenn sie durchgehend gekühlt, mit der gewölbten Seite nach unten und nicht luftdicht aufbewahrt werden, können Austern eine gute Woche überleben – also angeblich. Testen würde ich es lieber nicht.
Weil ich trotzdem ein Gefühl für dieses spezielle Einkaufserlebnis bekommen möchte, entschließe ich mich zum Kauf eines 2kg-Austernkorbes, obwohl ich gar nicht vorhabe, die Austern zu essen. Stattdessen ist mein Plan, sie anschließend im Meer auszuwildern (mein kleiner Beitrag zum Artenschutz).
Natürlich ist der Einkauf ernüchternd. Auswahl der gewünschten Menge am Bildschirm, Zahlen mit Karte, eine Kühlfachtür springt auf. Tipp, tipp, plopp. Das Plopp hat nichts gemein mit dem Plopp von damals, sehnsüchtig denke ich an die Magie des Kaugummiautomaten an der Seitenwand des Bochumer Chinarestaurants zurück. Aber vielleicht reden wir noch mal, wenn ich in Frankreich den ersten Pain-au-chocolat-Automaten entdeckt habe.