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Rosa Rauch am Himmel

Wenige Tage nachdem in Rom weißer Rauch aufgestiegen war, stieg über einigen Dächern Berlins rosafarbener Rauch in den Himmel. Anders als im Vatikan wurde in Berlin-Kreuzberg allerdings nicht die Entscheidung über einen neuen Würdenträger angekündigt, sondern ein Baby, genauer: dass es ein Mädchen wird. Es gab keine Live-Schalte. Nur ein Telefonat, bei dem ich von dem Ereignis erfuhr, und kurz blieb mir der Mund offenstehen. Zwar war es nicht so, dass ich bis dahin nie von Gender Reveal Partys – übersetzt in etwa: Geschlechtsenthüllungspartys – gehört hatte. Nur dachte ich, sie hätten im Unterschied zum Valentinstag, zu Black Friday und Halloween den Weg über den Atlantik nicht geschafft. Ich hielt die Idee für zu abwegig, andererseits muss man einräumen, dass Abwegigkeit selten ein Kriterium beim Übernehmen US-amerikanischer Traditionen oder Feiertage war. Im Grunde ist es wohl eher verwunderlich, dass wir noch kein Thanksgiving feiern.

Seit knapp zwanzig Jahren gehören Gender Reveal Partys in den USA, wo kaum eine Gelegenheit ausgelassen wird, ein beliebiges Ereignis in ein kommerzialisierbares Event zu verwandeln, zum Repertoire einer familiäres Glück verherrlichenden Gesellschaft: Die werdenden Eltern laden Familie, Freundinnen und Freunde ein, um ihnen – gern vor laufenden Handykameras – das Geschlecht ihres Babys mitzuteilen, und zwar in einem sorgfältig geplanten sowie sozial-medial verwertbaren Überraschungsakt. (Alternativ können die Eltern sich selbst überraschen lassen, indem das geschlechtsenthüllende Ultraschallbild in einem geschlossenen Umschlag an Dritte übergeben wird, die die gesamte Party ausrichten.) Der Überraschungsakt schließlich sieht Torten, Cupcakes, Konfettikanonen, Luftballons, Rauchbomben oder Feuerwerke vor, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wichtig ist nur, dass das gewählte Mittel eine von zwei Farben hervorbringt: Rosa oder Hellblau. Mit anderen Worten, die Torte offenbart im Augenblick des Anschneidens eine hellblaue Füllung oder eine rosafarbene, das Feuerwerk ballert rosa Rauch in die Luft oder eben hellblauen. Wenn man bei Instagram das Hashtag #genderreveal eingibt, kann man sich die abenteuerlichsten Variationen dieser Praxis anschauen, Trefferanzahl: über 4 Millionen.

Dass Gender Reveals mit wachsendem Erfolg auch in Deutschland gefeiert werden – was sich nicht zuletzt an der beeindruckenden Vielfalt an entsprechenden Deko-Angeboten bei z.B. Amazon ablesen lässt – verdankt sich im Wesentlichen genau jenen Social-Media-Kanälen. Es sind die Millennials, die mit ihnen groß geworden und jetzt im Familiengründungsalter sind. Sie scheinen empfänglich für US-Importe und Event-Kultur, und ich möchte wirklich keine Spielverderberin sein, alle sollen unbedingt die Feste feiern, die sie feiern möchten! Ich frage mich nur: Waren wir als Gesellschaft nicht gerade halbwegs weit darin gekommen, uns mit geschlechtlicher Vielfalt auseinanderzusetzen, eine entsprechende Sensibilität im Umgang mit ihr zu entwickeln und stereotyp dargestellte Geschlechteridentitäten und -rollen in Frage zu stellen? Prinzessinnen-Duschgel und Glitzerkram für Mädchen, Fußball und Superman-Tapeten für Jungs, also diese Zeiten sind eigentlich passé. Und jetzt wird mit der selbst Kinder auf die Welt bringenden Generation der Millennials die Zukunft wieder – rosa und hellblau?

Die Kritik daran ist nicht neu. Selbst die Initiatorin der Gender Reveal Party, die Bloggerin Jenna Karvunidis, hat sich inzwischen von dem von ihr gesetzten Trend distanziert und ihn gar bereut – sie habe ein „Monster“ geschaffen, sagte sie vor einiger Zeit gegenüber „The Guardian“, denn nicht nur seien viele Gender Reveals aufgrund riskant choreografierter Abläufe vollständig aus dem Ruder gelaufen (einige von ihnen mit tödlichem Ausgang), sondern ein Kind sei auch „mehr als sein Geschlecht“. Was sie nicht zuletzt daran erkannte, dass sich eins ihrer eigenen Kinder heute als „geschlechtlich nicht-konform“ bezeichnet.

Diese Einsicht ist irgendwie wohltuend, sie nützt nur leider nichts, denn Gender Reveal Partys – die streng genommen übrigens Sex Reveal Partys heißen müssten, geht es doch eben um das biologische Geschlecht, nicht ums soziale – werden weltweit zunehmend populär. Das Kind scheint also gewissermaßen in den Brunnen gefallen zu sein, und zwar in einem merkwürdig anachronistischen Rückwärtssalto.

Abgesehen vom Paradox der bedenkenlos reproduzierten Geschlechterklischees in einer Zeit der Gender-Sensibilisierung verwirren mich allerdings auch die damit verbundenen familiären Klischees, diese seltsam gestrig wirkenden Bilder von heilen, heterosexuellen Familien – sowie die kapitalistische Verwertung all dessen, wobei man sich natürlich fragen muss, ob die stärkere Schubkraft auf Seiten der Anbietenden oder der Nachfragenden liegt. Und ob die jüngsten politischen Entwicklungen in den USA die Schubkraft nicht auf beiden Seiten nochmals radikal verstärken werden.

Im Vergleich zu vielem, was ich im Internet gesehen habe, scheint die Dachterrassenparty in Berlin jedenfalls ziemlich dezent und unspektakulär verlaufen zu sein. Es gab Geschenke, Getränke und Kuchen, und es gab rosa Rauchbomben. Als letztere gezündet wurden – aus meiner Sicht unbestrittener Höhepunkt der Party – fragte ein Zwölfjähriger seine Mutter: „Heißt das jetzt, dass es ein Mädchen wird, Mama?“

Wenn diesem Jungen nicht sofort klar war, wofür die Farbe Rosa steht, dann gibt es vielleicht doch noch Hoffnung. Zumindest für die Generation der heute Zwölfjährigen.

> TAZ, 15.08.2025