„Trotzdem machen ist der Generalschlüssel. Trotz Angst, trotz Planlosigkeit, trotz Überforderung. Andere Leute machen Bungee-Jumping, ich schreibe und gestalte.“
Chris Campe, Designerin & Autorin
Wie sieht ein normaler oder idealer Arbeitstag für dich aus, was für einen Rhythmus hast du? Hast du feste Arbeitszeiten oder sehr unterschiedliche?
Ich wache zwischen sieben und halb acht auf, mache Kaffee und lese mindestens eine halbe Stunde lang. Idealerweise bin ich gleich danach um halb neun oder neun am Platz und fange mit dem zweiten Kaffee direkt an zu schreiben. Das klappt aber nur, wenn ich zu Hause arbeite, und es war einfacher, als ich noch nicht mit meine*r Partner*in zusammengelebt habe. Gemütlichkeit killt Disziplin.
Zum Büro brauche ich eine halbe Stunde mit dem Rad, ich schaffe es selten vor halb zehn. Dort angekommen, mache ich Kaffee und Tee, packe meine Sachen aus und räume so rum. Dabei vergeht schnell eine halbe Stunde. Doch wenn ich erst um halb elf anfange zu arbeiten, habe ich das Gefühl, dass es sich eigentlich schon nicht mehr lohnt.
Angeregt durch den Podcast einer Freundin habe ich ein paar Wochen lang in einer Excel-Tabelle erfasst, was ich tue. Vom Aufwachen bis zum Schlafengehen, im Viertelstundentakt. Puh! Ich weiß jetzt, dass ich zwischen allen Tätigkeiten fünfzehn Minuten Puffer einplanen muss. Seitdem schreibe ich meine To-do-Listen wieder mit Zeitfenstern. Normale To-do-Listen funktionieren für mich nicht, weil immer zu viel draufsteht. Aber To-do-Listen mit Zeitfenstern haben den Effekt, dass die Anzahl der To-dos realistischer ist und dass die Aufgaben oft wirklich nur so lange dauern, wie ich dafür vorgesehen habe.
Ich achte darauf, am Wochenende und außerhalb der normalen Bürozeiten keine Mails zu schreiben. Arbeits-Mails, die um 6:32 Uhr oder 22:17 Uhr ankommen, zeugen von schlechtem Zeitmanagement oder völliger Entgrenzung der Lebensbereiche – „unprofessionell!“, urteile ich hart. Ich weiß nicht warum, aber Unprofessionalität ist das Schlimmste für mich.
Im Winter mache ich Tageslicht-Teilzeit und bleibe nur so lange im Büro, wie es hell ist. An manchen lichtlos-grauen Tagen im Dezember packe ich also um 15 Uhr schon wieder zusammen. Meine Mutter hat mal gesagt: „Ich hab immer den Eindruck, du arbeitest gar nicht so viel.“ Aber meine Freund*innen würden das nicht bestätigen.
Kannst du sagen, wie viele Stunden pro Tag du im Durchschnitt netto arbeitest (schreibst, malst, übst)? Wie viel kommt im besten Fall dabei heraus (zwei Seiten, eine Skizze, zwanzig Takte)?
Ich weiß es nicht. Je nachdem was ich als Arbeit definiere, arbeite ich eine bis zehn Stunden am Tag. Sogar mehr, wenn das Zeichnen abends beim Fernsehen auch zählt.
Es ist auch unklar, was meine Arbeit ist: schreiben oder gestalten? Ich bin eigentlich Designerin, aber das Schreiben nimmt einen immer größeren Teil meiner Zeit ein. Ich habe sechs Sachbücher veröffentlicht und ich arbeite an einem Roman und an Essays – allerdings habe ich beides seit einem Jahr nicht mehr angefasst. Außerdem habe ich On-off-Beziehungen mit drei weiteren Sachbuchideen.
Vorm literarischen Schreiben habe ich großen Respekt. Angst eigentlich. Ich denke „ich weiß überhaupt nicht, wie das geht!“ Dabei wusste ich bei den Sachbüchern auch nicht, wie das geht, und habe es trotzdem gemacht. Trotzdem machen ist sowieso der Generalschlüssel. Trotz Angst, trotz Planlosigkeit, trotz Überforderung. Oder doch deswegen? Andere Leute machen Bungee-Jumping, ich schreibe.
Wie viele Stunden kommen durchschnittlich hinzu für „Hintergrundarbeiten“ und alles andere (Recherchen, Bürokram, Akquise, Website, Social Media)? Wie findest du die Balance zwischen all den Aufgaben, die du als freischaffende:r Künstler:in im Blick behalten musst?
Auch das kann ich nicht in Stunden angeben, aber ein Schätzwert von 70% scheint mir nicht zu hoch gegriffen. Aufs Schreiben kann ich mich morgens am besten konzentrieren, wenn mein Gehirn noch frisch ist. Idealerweise mache ich vorher gar nichts anderes, vor allem keine Mails beantworten oder überhaupt kommunizieren. Die ganzen anderen Sachen können warten.
Zeichnen geht mir nachmittags ab 16 Uhr am besten von der Hand. Dabei ist es eher angenehm, wenn der Tag schon von Eindrücken gesättigt ist. Zeichnen verlangt mir viel weniger Konzentration ab als Schreiben. Ich zeichne intuitiver als ich schreibe, weil ich mich dabei auf mein Können und meine Erfahrung verlassen kann. Schreiben fühlt sich dagegen oft an wie ein Stochern im Nebel. Immer wieder verliere ich den Überblick und der Sinn rutscht mir weg.
Gibt es Wochenenden für dich? Was bedeutet Freizeit?
An einem idealen Wochenende hocke ich den ganzen Tag zu Hause und beschäftige mich ohne Termine und Unterbrechungen mit Dingen, die ich mir frei aussuchen kann. Ab Freitagmittag und kurz vor Weihnachten bin ich erleichtert, weil ich weiß: Jetzt kommt nichts mehr, keine Mails, keine Anrufe, niemand will etwas von mir. Ein himmlischer Zustand.
Obwohl ich am liebsten stubenhocke, versuche ich mich an den Grundsatz „people are more important than projects“ zu halten. Treffen mit Freund*innen haben Vorrang, sie sind in den letzten Jahren ohnehin seltener geworden, weil alle so beschäftigt sind (in Wirklichkeit bin ich es, die sich zurückgezogen hat). Außerdem habe ich eingesehen, dass es immer gut ist, etwas außer der Reihe zu machen, denn an die Eindrücke von einem Ausflug erinnere ich mich lange, an den x-ten Tag am Rechner nicht.
Was ist die größte Gefahr für dein künstlerisches Schaffen, wovon lässt du dich ablenken?
Schlechter Schlaf, Kommunikation.
Hast du Strategien, um dich vor Ablenkungen zu schützen?
– Handy im Flugmodus ins andere Zimmer legen
– das Programm, in dem ich arbeite, in den Vollbildmodus schalten, Mailprogramm und Messenger zu und alle Benachrichtigungen aus
– Neben dem Rechner liegen Stift und Zettel. Darauf notiere ich alles, was ich schnell mal eben machen will und dann mache ich es später.
– Ich stelle einen Timer für eine Stunde. Nach 25 Minuten schaue ich meistens das erste Mal nach der Zeit, aber oft gelingt es mir dann, mit dem Gedanken „na ja, komm, eine Stunde wirst du wohl hinkriegen“ weiterzumachen, bis die Stunde um ist.
Wie sieht deine Arbeitsumgebung aus, was ist essenziell für dich? Brauchst du zum Beispiel absolute Stille – und wenn ja, wo und wie findest du sie?
Alleinsein, Stille, Wärme, ein leerer Schreibtisch in einem ordentlichen Raum und möglichst nichts im Blickfeld, keine Termine oder wie es jetzt so schön heißt: Zeitsouveränität
Wann und wo passiert der wichtigste Teil der Arbeit, wo findest du die größte Inspiration? Bei der Arbeit am Schreibtisch oder zufällig – unterwegs, in der Entspannung, auf Reisen, beim Lesen, im Austausch mit anderen Menschen?
Zeichnen und Schreiben bringen mich auf Ideen. Ich weiß inzwischen, dass sich eine Idee nur bis zu einem gewissen Grad durchdenken lässt. Dann komme ich in meinem Kopf nicht weiter und muss anfangen. Der Rest ergibt sich in der Umsetzung.
Wenn ich nach einer längeren Phase Denkarbeit im Büro mit dem Rad schnell und ausgehungert nach Hause fahre, habe ich lauter Ideen und halte oft an, um sie zu notieren. Der Wechsel von Bewegung und Ruhe spielt eine große Rolle, alles muss pulsieren. Saß ich den ganzen Tag zu Hause am Schreibtisch, gehe ich in der Dämmerung oft laufen. Weil ich auch im Halbschlaf viele Ideen habe, zähle ich Mittagsschlaf als Arbeitszeit. Es wird immer wichtiger für mich, Luft und Raum zu lassen, damit Ideen sich entwickeln können.
Ich bin gerne alleine, aber der Austausch mit anderen inspiriert mich auch und ich mag es, Menschen zusammenbringen. Deswegen organisiere mit drei Freund*innen ein dreitägiges Schriftfestival in Berlin, veranstalte alle zwei Monate den Hamburger Typostammtisch und bin häufig auf Konferenzen. Nach solchen Events schlafe ich schlecht und muss mich lange erholen, aber die Impulse, die ich von dort mitnehme, sind es wert.
Wie oft oder leicht kommst du in einen kreativen „Flow“, und was hilft dir am meisten, um diesen Zustand zu erreichen?
Gut schlafen und morgens gleich anfangen sind die besten Voraussetzungen. Auch wenn diese nicht erfüllt sind, ist es wichtig, anzufangen und nicht zu früh aufzuhören. Einfach weiterzumachen, mindestens eine halbe Stunde lang, danach läuft es oft von selbst. An manchen Tagen kommt vielleicht nicht viel dabei heraus, aber irgendwas geht immer.
Was machst du, wenn nichts klappt – wenn Ideen oder Erfolg ausbleiben oder wenn dir nicht das gelingt, was du dir vorgenommen hast?
An schlechten Tagen helfen Schlaf, Bücher und Sport. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, denn ich galt schon als Kind als unsportlich und bewege mich nur zum Ausgleich und um ab und zu auch mal im Körper zu sein, nicht immer nur im Kopf.
Manchmal warte ich einfach, bis der Tag vorbei ist. Meine Stimmungen ändern sich ständig, das ist vielleicht das Gute daran, feinfühlig und durchlässig zu sein. Nichts ist statisch, spätestens am nächsten Tag fühle ich mich wieder anders, und meistens bin ich hoffnungsvoll und gespannt darauf, was mich dann erwartet.
In schlechten Phasen warte ich, bis der richtige Moment kommt. Denn oft brauche ich Jahre, bis ich Ideen umsetzen kann. Wenn es Widerstände gibt, ist irgendetwas noch nicht so weit. Ich versuche dann herauszufinden, was das ist und was ich daran ändern kann. Das Schwierigste ist das Emotionsmanagement, bis es so weit ist.
Was hilft dir, wenn dein Selbstvertrauen angeschlagen ist (z.B. wegen schlechter Auftragslage, schlechter Kritiken, finanzieller Flaute, schlechter Stimmung)?
Zeichnen hilft mir. Zeichnen heißt, aus nichts etwas zu machen: Erst ist da nur ein Blatt Papier, und dann ist da eine Zeichnung. Zeichnen überrascht mich jedes Mal, denn auch nach 25 Jahren mit Zeichnen als Beruf gelingt es mir nicht, das, was ich im Kopf habe, eins zu eins aufs Papier zu bringen. Oft ist aber das, was ich aufs Papier bringe, viel interessanter als das, was ich im Kopf hatte. Der Trick gegen Frust ist also, unterwegs offen zu bleiben und die eigene Vorstellung immer wieder zugunsten der Wirklichkeit aufzugeben, um mit der Wirklichkeit weiterzuarbeiten.
Belohnst du dich, wenn du etwas geschafft, ein bestimmtes Ziel erreicht hast?
Ich belohne mich wahrscheinlich zu wenig. Oft muss ich mich daran erinnern, dass das, was ich erreicht habe, nicht selbstverständlich ist – dass einige meine Arbeiten in Sammlungen von Museen sind, dass ich offizielle deutsche Briefmarken gestalte und schon sechs Bücher veröffentlicht habe.
Vertraust du auf den Rat anderer oder auf Ratgeber-Literatur? Gibt es Bücher, die dir geholfen haben, Mut zu finden auf deinem künstlerischen Weg?
Ich habe einen Hang zur Selbstverbesserung und lese regelmäßig Ratgeber. Immer wenn mich etwas beschäftigt, gehe ich als Erstes in die Bücherhalle und hole mir einen Stapel Bücher zum Thema. Es tröstet mich, dass andere ähnliche Probleme haben, ihre Erfahrungen hebeln mich aus meinem eigenen Elend.
Überhaupt prägen Bücher und das Lesen mein In-der-Welt-Sein. Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht. Ich lese morgens, mittags und abends. Schreiben wollte ich schon immer, und nach fast 40 Jahren Lektüre fühlt Schreiben sich an wie eine Antwort auf all die Bücher, die ich gelesen habe. Ich möchte ein Teil des Gesprächs sein, das in diesen Büchern stattfindet. Und ich träume davon, dass Autor*innen, die ich bewundere, meine Texte lesen und dass die Bewunderung gegenseitig ist.
Wie viel bedeutet die Anerkennung deiner Kunst durch andere? Was ist die beste Form der Anerkennung?
Anerkennung von außen bedeutet mir viel. Es fühlt sich manchmal so an, als sei ich immer noch fünf Jahre alt. Ich halte ein Bild hoch, das ich gerade gemalt habe, und alle rufen: „Das hast du aber toll gemacht!“ Wäre mir Anerkennung von außen egal, würde ich als Erstes meinen Instagram-Account löschen und dann vielleicht Busfahrerin werden.
Wovor hast du Angst?
Kapitalismus, Klimakrise, Krieg, Atomkatastrophen, langanhaltende Stromausfälle, Ausnahmezustand, die AfD und rechte Umstürzler*innen, Menschen, die finden, die Antifa sei viel schlimmer als die Rechten, Tech-Milliardäre, Trump, Friedrich Merz als Bundeskanzler, homophobe Hate Crimes, ominöse Krankheiten, die schlecht erforscht sind, weil sie nur Frauen betreffen, Radfahren in Hamburg, Altersarmut – und da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Gibt es Dinge, die du bereust oder gern früher gewusst hättest? Was würdest du anders machen, wenn du am Anfang deiner Laufbahn stündest?
Wenn ich noch mal 20 wäre, würde ich kompromissloser erwarten, dass das Leben sich gefälligst an mich anpasst und nicht umgekehrt.
Hat sich die Selbständigkeit ergeben, war sie notwendig oder gewollt und angestrebt? Was ist das Schöne daran, was das Schwierige?
Ich habe Illustration und Kulturwissenschaften studiert. Angestellte Illustrator*innen gibt es so gut wie gar nicht, deswegen war mir immer klar, dass ich selbstständig sein würde. Mein Vater war selbstständig, mein Onkel auch. „Was soll ich denn sonst machen – in die Fabrik gehen?“, hat mein Vater mal gesagt. Dass „sein eigener Herr sein“ ein hohes Gut ist, vor allem für einen Landwirt wie ihn, habe ich von zu Hause mitbekommen. Ich war noch nie Vollzeit angestellt. Gegen eine Anstellung sprach für mich bisher auch, dass ich mit meiner Energie dabei die Ideen von jemand anderem vorantreiben würde. Dann doch lieber meine eigenen.
Zu Beginn meiner Selbstständigkeit haben manche Bekannte gesagt: „Oha, hast du keine Angst?“ Irgendwann fiel mir auf, dass es immer Angestellte waren, die das fragten, Kinder von Lehrer*innen oder Bankangestellten. Solche familiären Aspekte sind natürlich prägend. In meinem Umfeld war Selbstständigkeit normal.