Die Fischgabel der Grammatik
Vor gut zehn Jahren verbrachte ich ein paar Wintertage in einem Hotel an der Ostsee, ich suchte Ruhe und hätte sie auch finden können, wenn nicht unmittelbar vor meinem Fenster von morgens bis abends eine Frau auf ihrem Leierkasten „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ georgelt hätte. Es trieb mich in den Wahnsinn. Im letzten Sommer war ich zum ersten Mal wieder in diesem Ort an der Ostsee, anderes Hotel, aber bei einem Spaziergang entdeckte ich die Frau mit dem Leierkasten. Sie stand an derselben Stelle wie damals und spielte dieselben Lieder. Neu jedoch war ein Schild, das an ihrem Leierkasten angebracht war mit der Bitte um eine Spende: „Alter’s Vorsorge“.
Das machte mich irgendwie weich. Der Frau, dem Leierkasten und auch der Grammatik gegenüber. Zumindest letzteres ist nicht selbstverständlich, leider, weil ich einen Knall habe, was Apostrophe betrifft. Immerhin weiß ich, dass ich nicht allein damit bin, was sich nicht zuletzt an der Vielzahl von Leserzuschriften zeigte, die ich erhielt, nachdem ich mich einmal in einem Artikel über inhaltlich sinnlose und typografisch falsche Anführungszeichen ausgelassen hatte. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich derart viele Leidensgenossen hatte – Menschen, denen falsche Anführungszeichen, ähnlich wie mir, fast physische Schmerzen bereiten. Viele von ihnen beklagten jedoch, dass ich den Missbrauch des Apostrophs unterschlagen hatte, denn dieser sei schlimmer.
Stimmt, dachte ich damals, aber ist nicht wirklich schon genug geschrieben worden über die zahlreichen Fälle von falschen Genitiven (Olli’s Büdchen), kruden Pluralformen (Menü’s) und über die vielen Nonsensapostrophe, die sich jeder Einordnung entziehen (Anana’s, Chao’s)? Und leben wir nicht längst damit, dass die meisten Apostrophe auch typografischer Murks sind und eben nicht wie ein klares Komma oder eine kleine 9 straff zwischen zwei Buchstaben oder am Ende eines Wortes sitzen, sondern oft schräg von links oben nach rechts unten wehen – mit möglichst viel Abstand zum vorhergehenden Buchstaben (abend `s)?
Im Verlag haben wir falsche Apostrophe stillschweigend korrigiert, denn selbst sprachlich Versierte finden oft nicht das richtige Zeichen auf ihrer Tastatur oder schreiben „für’s“ und „auf’s“ und benutzen Imperative wie „Komm’!“. Ähnlich stillschweigend werden Genitive in Titelformulierungen vermieden – jedenfalls dann, wenn später leicht „Liewe Cupido’s zweiter Fall“ daraus gemacht werden könnte. Ich sage das ohne jede Überheblichkeit, denn seit der Rechtschreibreform strauchele ich in vielen Bereichen selbst oft genug (bis auf Weiteres oder weiteres?). Und es ist ja auch immer ein bisschen die Frage, an welcher Stelle man empfindlich ist. Ich persönlich bin großzügig bei einem Dativ hinter „wegen“, habe mich daran gewöhnt, dass meine jugendlichen Verwandten in Kurznachrichten „iwie“ schreiben („Wird iwie klappen“), aber ein Dativ nach „gedenken“, falsche Imperative und abenteuerliche Auslassungs- oder Anführungszeichen lassen mich regelrecht zucken – genau wie ein falscher Apostroph.
Wenn ich aber genau drüber nachdenke und meine niederen korrekturzwänglerischen Impulse unterdrücke, denke ich eigentlich: weg damit. Wir sollten ihn abschaffen, den Apostroph. An welcher Stelle würde er uns schon fehlen? In „Auf gehts“ doch nicht? An den Anblick von „Wiesn“ statt „Wies’n“ haben wir uns längst gewöhnt. Die Sportschau wird sich für M’gladbach in der Tabelle etwas einfallen lassen. In dem einzig wirklich heiklen Fall – Illies’ neues Buch – ist das Kind ohnehin längst in den Brunnen gefallen. Hier ist der Apostroph nötig, wird aber selten benutzt oder, schlimmer noch, dem Dativ geopfert (dem Illies sein neues Buch). Keine Ahnung, wie eine geeignete Rettungsaktion aussehen könnte, aber vielleicht kann man sich an den Dativ gewöhnen wie an die Zeitumstellung oder dass statt daß?
Im britischen North Yorkshire wurde unlängst ein entsprechender Vorstoß gemacht und der Apostroph von Straßenschildern verbannt: Aus St. Mary’s Walk wurde St. Marys Walk. Selbstverständlich hagelte es Proteste – insbesondere von Seiten einer kleinen Vereinigung, die sich der Rettung des Apostrophs verschrieben hat (Apostrophe Protection Society) (in England gibt es für alles eine Society): „Kultureller Vandalismus“ sei das, der Anfang vom Ende! Andere, wie beispielsweise der amerikanische Sprachwissenschaftler John McWhorter, halten dagegen, der Apostroph habe kaum noch eine Funktion, eher diene er dazu, sich über Menschen zu erheben, die im Umgang mit ihm Fehler machen. Im Grunde, schreibt McWhorter, seien Apostrophe die „Fischgabeln der Interpunktion“ – kaum jemand weiß, wozu sie da sind und wie man sie benutzt, mit großer Wahrscheinlichkeit benutzt man sie falsch.
Ich denke daran, wie sehr ich mit Fischbesteck auf Kriegsfuß stehe. Ich denke an die Frau mit dem Leierkasten, die andere Sorgen hat als Grammatik. Ich denke daran, dass ich mich selbst an die Schreibweise von Kuss, Tollpatsch und Flussschifffahrt gewöhnt habe. Und denke erst recht: Adieu, Apostroph! Schön wars mit dir.